Eine Welt der Vielfalt: Das Bard College Berlin
Vor gut zehn Jahren, als in Deutschland einerseits „Multikulti“ noch folkloristische Fröhlichkeit versprach, und andererseits weiße Hetero Cis-Männer aus der Mittel- und Oberklasse noch die weithin unangefochten herrschende Norm darstellten, erzählte mir mal ein New Yorker Banker, vielleicht war es auch ein Rechtsanwalt, jedenfalls verdiente er Unmengen Geld, und er war selbst unverkennbar und ohne jedes Schuldgefühl weiß, cis, hetero und Angehöriger der Oberschicht: Seine Firma suche gerade händeringend eine Trans-Person als Mitarbeiter. Bei Frauen und People of Colour sei seine Firma halbwegs gut aufgestellt, aber Trans fehle ihnen. Warum das, fragte ich ihn überrascht, ich wusste damals kaum, was Trans eigentlich bedeutete, und er antwortete: Weil die hoch qualifizierten, hyperleistungsbereiten jungen Leute, die von den Universitäten kommen und auf die die Firma eigentlich scharf war, das so wollen. Man könne die Besten der Besten nicht mehr nur allein mit Geld ködern, man müsse ihnen auch ein attraktives Arbeitsumfeld bieten. Und zu einem attraktiven Arbeitsumfeld heutzutage gehöre nun mal Vielfalt – Diversity –, und da sei Transgender jetzt der letzte Schrei.
Anekdoten wie diese lassen sich heranziehen, um seit dem Trump-Sieg
populär gewordene Thesen zu unterstützen, dass die ganze auf Förderung und Anerkennung von ethnischer, kultureller und geschlechtlicher Vielfalt abzielende Politik des letzten Jahrzehnts, die ganzen Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsbemühungen vor allem dazu gedient hätten, von der wachsenden sozialen Ungleichheit abzulenken. Die gegenwärtige Krise der Demokratien sei vor allem der „Identitätspolitik“ von Eliten anzulasten, mit ihr müsse Schluss gemacht werden, damit wieder Sozialpolitik möglich und mehr Gerechtigkeit für die Unter- und Mittelschichten hergestellt werden könne, so heißt es.
Vielfalt ist aber, mindestens seit John Stuart Mill, ein Indikator für Freiheit, und als Wert unverzichtbar in pluralistischen Gesellschaften: Wo Vielfalt herrscht, ist es erlaubt, anders zu sein, von der Norm abzuweichen, wird die Abweichung nicht als Bedrohung gesehen, kann das Individuum eigene Wege gehen, können Gruppen Traditionen und Gebräuche ausbilden, die wiederum wichtig sind, um Schwache vor der Erbarmungslosigkeit von ungezügelter Konkurrenz zu schützen. Und nur mit Vielfalt, durch einen positiven Umgang mit Differenz, kann Neues entstehen, ist Innovation möglich. Nur über Vielfalt erschließt sich uns die Welt, nur durch Vielfalt können marginalisierte Perspektiven sichtbar werden, nur in der Erfahrung der Vielfalt erkennen wir uns selbst. Und eigentlich gibt es keinen vernünftigen Grund, eine Politik, der es um die Zulassung von Differenz zu tun ist, und die deshalb mit „Identitätspolitik“ sowieso falsch benannt ist, gegen eine Politik für soziale Gerechtigkeit auszuspielen.
Trotzdem denke ich, dass wir einen sehr viel differenzierteren Blick auf Vielfalt brauchen, um ihren Wert je nach dem Kontext, in dem sie eingesetzt und verhandelt wird, und der Funktion, die ihr zugewiesen wird, besser zu erkennen. Denn obwohl oder gerade weil Vielfalt wegen ihres Zusammenhangs mit Freiheit auch ein Selbstzweck ist, und um ihrer selbst geschätzt wird, wird sie natürlich auch ökonomisiert und für alle möglichen anderen Zwecke instrumentalisiert. Auch lassen sich Diversität und Homogenität nicht immer nur als Gegensatz sehen. Sie existieren oft in komplizierten Wechselverhältnissen und bedingen sich manchmal sogar gegenseitig. Vor allem aber hat das Mehr an Freiheit durch mehr Vielfalt meistens einen Preis, nämlich dass diejenigen, die sich in der Vielfalt selbst relativieren und neu positionieren müssten, sich in ihren Handlungsmöglichkeiten zunächst eingeschränkt sehen und deshalb – fälschlich – glauben, es handle sich um einen Freiheitsverlust. Und darauf reagieren sie so wütend und so hilflos, dass konstruktive Veränderungsprozesse oft gar keine Chance mehr haben und alles untergeht in riesigem Geschrei.
Ich selbst bewege mich beruflich in zwei verschiedenen Welten, von denen die eine durch ein hohes Maß an Homogenität, die andere durch ein hohes Maß an Vielfalt geprägt ist. In der deutschen Zeitgeschichte, wo ich akademisch sozialisiert wurde, hat ethnisch-kulturelle Diversität bis heute überhaupt keinen Wert. Die Forschungsinstitute in Deutschland tun sich schwer genug damit, auch nur ihren Frauenanteil zu erhöhen, selbst wenn sie sich
dazu verpflichtet haben. Die Gründe für den mangelnden Wert von Vielfalt lassen sich nicht so einfach beseitigen, sie sind tief verwurzelt in der Geschichte der Geschichtswissenschaften in Deutschland und ihrer Rolle für die Nationalstaatsbildung, im 19. Jahrhundert, im 20. Jahrhundert und auch noch im 21. Jahrhundert. Die deutsche Zeitgeschichte hat nach wie vor den Charakter einer „Zunft“, die ihre eigene Qualitätssicherung betreibt und den Zugang über Lehrer-Schüler-Verhältnisse relativ streng regelt, um den Selbstfindungs- und Selbstverständigungsprozess der Kreise, die das Staatswesen tragen, historisch zu begleiten. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat dieser Männerclub durchaus einiges an Vielfalt – sozialer Vielfalt und in Grenzen auch kultureller Vielfalt – integriert, er hat sich vor allem (sozial)-demokratisiert und ent-elitisiert, nach West-Europa und den USA hin geöffnet, nach der Wiedervereinigung zumindest bis zu einem gewissen Grad ostdeutsche Historiker aufgenommen und osteuropäische Perspektiven erschlossen, und jeweils die dadurch ermöglichten Innovationspotentiale auch genutzt. Aber Frauen kommen, trotz aller Gleichstellungsbemühungen, nicht so richtig hoch, und Zeithistoriker*innen mit zum Beispiel muslimischem Hintergrund, oder mit anderer Hautfarbe, mit nicht-westlicher oder nicht-europäischer Erfahrung, finden sich bis heute wenn überhaupt nur an den äußeren Rändern, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendetwas dafür getan würde, die ethnisch-kulturelle Vielfalt zuzulassen oder herzustellen, die es bräuchte, um die Zeitgeschichte der globalen Entwicklungen heute in die deutsche Zeitgeschichte zu integrieren. Ein substantielles Mehr an ethnisch-kultureller Diversität würde den gewachsenen Kommunikationszusammenhang der deutschen Zeithistoriker*innen wahrscheinlich tatsächlich sprengen; die „Zunft“ würde diese Herausforderungen kaum überleben.
Die andere akademische Welt, in der ich vor allem unterrichte, ist die eines transnationalen, privat finanzierten, seit jeher mit Diversität und Transdisziplinarität experimentierenden Liberal Arts Colleges, das „Bard College Berlin“. Der Frauenanteil dort liegt über 50 Prozent, auf allen Ebenen, und die knapp 300 Studierenden kommen aus über 60 Ländern. In diesem Sommer wird die Zielmarke von zehn Prozent Studierenden mit Kriegs- und Fluchthintergrund, die Vollstipendien bekommen, erreicht sein. Die Diversität und Transdisziplinarität und die dadurch entstehenden Lern- und Selbstentfaltungsmöglichkeiten für alle Beteiligten sind das Alleinstellungsmerkmal, das der Schule ein Überleben auf dem Markt privater Universitäten erlaubt. Die Diversität umfasst in begrenztem Maße auch soziale Vielfalt: Durch die Spendenfinanzierungen und die vielen Stipendien ist der Anteil von „first generation students“ und Kindern aus nicht wohlhabendem Elternhaus vermutlich nicht geringer als in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Studiengängen an deutschen Unis. Trotzdem gibt es natürlich auch Faktoren, die die Vielfalt wieder einschränken: Da die privaten Sponsoren Syrien vor allen anderen Krisengebieten bevorzugen, sind in dem
Stipendien-„Program for International Education and Social Change“ sehr viele syrische Studierende, und buchstäblich niemand aus Afrika. Amerikanische Studierende sind überrepräsentiert. Der Lehrplan bekennt sich, mit einem „Core Curriculum“ kanonischer Texte des philosophischen und politischen Denkens von der Antike bis in die Moderne (Postmoderne gibt’s nur in den Wahlfächern, dort aber nicht zu knapp), zu einer westlichen Bildungstradition. Aber all dies ist doch im Fluss, wird offen und intensiv kritisiert und diskutiert, und jedes Semester geschehen Veränderungen, so, wie die Umstände es eben erlauben. Solange in Deutschland nicht eine nationalistische Gesetzgebung Finanzierungen durch „ausländische“ Geldgeber verunmöglicht, Visa-Vergaben weiter erschwert oder die Vielfalt an der Schule sonstwie bedroht – wie die ungarische Regierung es jetzt mit der Central European University in Budapest versucht –, ist das College in fast alle Richtungen anschlussfähig und gut aufgestellt.
Ich denke, dass es einerseits schon Sinn macht, Vergleichsparameter und Quoten zu definieren, um zu messen, wie es um die Vielfalt in Organisationen bestellt ist. Dabei müssten die sechs Dimensionen von Vielfalt, die in der „Charta der Vielfalt“, einer Initiative deutscher Unternehmen zur Förderung von Vielfalt unter Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin, festgehalten werden, noch ergänzt werden: Neben Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft/Nationalität, Geschlecht, Religion/Weltanschauung, und Sexuelle Orientierung/Identität müsste auch die soziale Herkunft eine Rolle spielen. Andererseits sollte bei der Bewertung der Diversitäts-“Erfolge“ oder eben auch „Misserfolge“ in all diesen Dimensionen immer mit berücksichtigt werden, welche Faktoren dazu geführt haben, dass Vielfalt eine Chance hatte und sich durchsetzen konnte, und welche Zwecke mit ihr verbunden werden. Dann bräuchte man auch nicht darüber lachen, dass die Unterzeichner*innen, der Vorstand und die Geschäftsstelle der „Charta“ ganz gegen ihr propagiertes Ideal in fast allen Dimensionen ausnehmend homogen zusammengesetzt sind, und nur in der Dimension „Geschlecht“ einen interessanten weiblichen Überhang haben; sondern könnte die Gründe dafür analysieren und aus ihnen lernen.
Dass ein gleichzeitig mit Quotenmessungen operierender, aber analysierend-differenzierter Umgang mit Vielfalt nicht nur eine Luxus-Aufgabe ist, sondern unbedingt nötig, zeigt ein Blick über den Teich in die USA unter der Regierung Trump: Die großen Firmen halten Diversity weiterhin in allen Ehren, Goldman Sachs, Netflix, Facebook und viele andere bezahlen ihren Mitarbeiter*innen inzwischen geschlechtsangleichende Operationen und interessieren sich mehr denn je für LGBT. Wenn mein Gesprächspartner vor zehn Jahren aber noch meinte, hochqualifizierte junge Menschen durch einen weltoffen und tolerant erscheinenden, von Diversität geprägten Arbeitsplatz beeindrucken und binden zu können, so wie Firmen ihre Attraktivität durch Kindergärten oder ein gutes Kantinenessen oder Tischtennisplatten erhöhen, was völlig okay ist, wird heute Diversity noch viel raffinierter für die Interessen von wenigen eingesetzt und ihr Freiheits-Wert ausgehöhlt: „Diversity and Inclusion must be seen as an investment and be placed where it belongs – at the center of all growth strategies“, heißt es jetzt auf „Forbes“, unter dem Titel:
„Is the Era of Trump Triggering Transformation in Workplace Diversity?“ Die Abweichung, die Differenz, solle keinen Eigenwert mehr haben, der Kosten verursache (Kosten, die der Gesellschaft geschuldet wären), sondern sie solle nur noch dem Profit des Unternehmens selbst dienen. Dazu sei aber unabdingbar, diejenigen, die seit jeher den größten Einfluss auf die Profitcenters haben, „non-divers white men“, zur Diversität zu „erwecken“, es also den existierenden Machtverhältnissen zu überlassen, zu bestimmen, welche Diversität fürs Unternehmen nützlich ist und welche nicht.
Eine solche Entwicklung verkehrt Diversität paradoxerweise in ihr Gegenteil. Die Folgerung daraus wäre aber nicht, Diversität als Wert ganz zu diskreditieren und auf Differenzpolitik zu verzichten, sondern vielmehr, Sozialpolitik und Differenzpolitik zu verknüpfen, also Vielfalt als einen gesellschaftlichen Wert zurück zu erobern und auf seiner Bedeutung für die Freiheit – auch die Freiheit vor der Allmacht von Ökonomie – zu bestehen.