Das schönste aller Wörter
An der Tür klingelt es. „Jemand hat das hier im Treppenhaus verloren“. Meine Nachbarin zeigt auf das Portemonnaie in ihrer Hand. „Es gehört dem Türken im dritten Stock, glaube ich“. Ich weiß, wen sie meint. „Ich bin über‘s Wochenende weg. Könntest Du es ihm vielleicht geben, wenn er sich meldet? Ich habe schon einen Zettel an die Tür gehängt“. Ich nehme das Portemonnaie an mich.
Der Türke. Wie hieß er eigentlich? Und warum nannten ihn immer alle nur „den Türken“?
Das Ganze erinnerte mich an etwas, das ich selbst erlebt hatte. Als ich fünfzehn war, verbrachte ich vier Monate in Frankreich für einen Austausch. An meinem ersten Schultag schlich ich unsicher durch die Flure des Gymnasiums und suchte das Klassenzimmer. Als ich es betrat und einen Platz in der letzten Reihe gefunden hatte, hörte ich, wie jemand flüsterte: „C’est l’allemande“ – Das ist die Deutsche.
Als ich es das erste Mal hörte, dachte ich mir nicht viel dabei. Aber in den nächsten Tagen passierte es mir immer öfter. Der Lehrer hatte mich mit meinem Namen vorgestellt, und auch ich sagte allen, wie ich hieß. Trotzdem erzählte mir eine Mitschülerin am kommenden Tag, dass unsere Physiklehrerin mich suchen würde. Sie hatte die Schüler gefragt, wo sie mich – wie sie sagte „die Deutsche“ – finden könnte. Und als ich im Bus meinen Schal vergaß, sprach mich der Fahrer am nächsten Tag an und erklärte mir, ein Fahrgast hätte ihm gesagt, dass er wohl mir gehöre – „der Deutschen“.
Nach einer Woche wurde mir klar: Ich war nicht mehr Rebekka. Ich war „die Deutsche“.
Ich wusste nicht damit umzugehen. Es störte mich. Aber vor allem machte es mich traurig. Weil ich doch einen Namen hatte. Weil ich doch mehr als nur „deutsch“ war. Und was hieß das überhaupt genau – deutsch zu sein.
„Für jeden Menschen ist sein Name das schönste und bedeutungsvollste Wort in seinem Sprachschatz“ (Dale Carnegie)
Wir alle wünschen uns, anerkannt zu werden, für das, was wir sind. Wir sind nicht nur Frauen oder Männer. Wir sind nicht nur jung oder alt. Wir sind nicht nur Deutsche, Türken oder Franzosen. Wir sind nicht nur In- oder Ausländer. Wir sind Menschen mit einer ganz eigenen Geschichte, Wünschen, Träumen und Ängsten. Und als solche möchten wir gesehen und verstanden werden.
Ein gutes Zusammenleben fängt da an, wo Menschen sich füreinander interessieren
Die Menschen, mit denen wir in Deutschland schon heute alltäglich zusammenleben, ganz egal, woher sie kommen oder welche Wurzeln sie haben, besitzen alle einen Namen und eine eigene Geschichte. Wenn wir nicht nur anonym nebeneinanderher leben, sondern als eine lebendige Gemeinschaft zusammenleben möchten, dann müssen wir anfangen, uns für die Menschen, die mit uns das Leben teilen, zu interessieren.
Im Nachhinein ist mir klargeworden, warum mich viele der Menschen, denen ich damals begegnet bin, nicht immer mit meinem Namen angesprochen haben. Weil wir es gewohnt sind, in Kategorien zu denken. Weil es manchmal einfacher ist. Es hilft uns, die Welt zu strukturieren. Meine Schulkameraden hatten damit nichts Böses im Sinn. Aber ich habe daraus gelernt.
Es klopft an der Tür. „Kann es sein, dass mein Portemonnaie hier abgegeben wurde?“, fragt der junge Mann, der mir da gegenübersteht. „Ja“, antworte ich. „Wie heißt du eigentlich?“ „Adnan“, sagt er. „Hier. Dein Portemonnaie, Adnan“.
Adnan lächelt.