Deutschland ist ein Einwanderungsland. Und Deutschland hat ein demografisches Problem.
In unserer Studie „Zuwanderung und Digitalisierung“ untersuchen wir, wie hoch die Nettomigration im jährlichen Durchschnitt sein müsste, damit Unternehmen und öffentliche Verwaltung auch künftig alle verfügbaren Jobs mit Arbeitskräften besetzen können. Dazu greifen wir auf die aktuellsten Daten und Forschungsergebnisse renommierter Forschungseinrichtungen zurück. Die Studie hatte eine große mediale Debatte ausgelöst, in deren Folge wir ein paar Punkte aufgreifen möchten.
Digitalisierung reduziert den Arbeitskräftebedarf, schafft aber auch neue Arbeitsplätze
Die aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Forschung prognostiziert einen rückläufigen Arbeitskräftebedarf in Deutschland für die kommenden Jahrzehnte. Im Dezember 2018 arbeiteten 45 Mio. Erwerbstätige; für das Jahr 2035 prognostiziert die von uns verwendete Studie des Forschungskonsortiums „Qualifikations- und Berufsprojektionen“ (QuBe-Projekt) nur noch 43 Mio. Erwerbstätige. Es wird demnach in der Zukunft deutlich weniger Jobs geben; dies wäre eine Trendumkehr. Denn seit 2006 sind jedes Jahr mehr als 400.000 neue sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden. Der größte Teil des erwarteten rückläufigen Arbeitskräftebedarfs ist eine Folge des Produktivitätsfortschritts, einschließlich der Digitalisierung (Wirtschaft 4.0).
Die Digitalisierung wirkt sich jedoch nicht nur auf den Gesamtbedarf an Arbeitskräften aus, sondern vielmehr auch auf die Strukturen, d.h. in manchen Wirtschaftssektoren und Berufen fallen Jobs weg und in anderen entstehen neue, etwa durch zusätzliche Investitionen in den Internetausbau. So wird im Szenario mit verstärkter Digitalisierung (Wirtschaft-4.0-Szenario) prognostiziert, dass mehr höher qualifizierte Experten und Spezialisten nachgefragt werden. Die Ergebnisse des von uns zugrunde gelegte QuBe-Szenarios decken sich in weiten Teilen mit denen anderer wissenschaftlicher Untersuchungen für Deutschland, z.B. Vogler-Ludwig (2017) und Bonin/Gregory/Zierahn (2015).
Das inländische Arbeitskräfteangebot nimmt demographiebedingt ab
Gleichzeitig wird das entsprechende inländische Potenzial an verfügbaren Arbeitskräften ohne Zuwanderung bis 2035 um fast 5,7 Millionen Erwerbspersonen schrumpfen. Wir schreiben „wird“, nachdem dieser Prozess bis 2035 unumkehrbar ist, weil fast alle dann verfügbaren Arbeitskräfte schon heute leben. Die im Jahr 2018 geborenen Kinder haben im Jahr 2035 nämlich ihren 17. Geburtstag. (Die einzige Unsicherheit besteht für 2035 also noch bei den 15- und 16-Jährigen, die heuer bzw. nächstes Jahr zur Welt kommen. Diese Unsicherheit ist aber winzig und ändert nichts an den Prognosen.) Der demografische Einfluss auf den Arbeitsmarkt ist bis 2035 unumkehrbar und auch langfristig kaum zu brechen, wie sämtliche wissenschaftlichen Studien belegen.
Die Reserven im Inland sind weitgehend ausgeschöpft, die Studie rechnet aber optimistisch
Was häufig übersehen wird: Bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren liegt Deutschland schon seit Jahren im europäischen Spitzenfeld. Optimistisch rechnen wir mit einem (weiteren) Anstieg. Beispielsweise arbeiten in unserer Prognose weit über 90% aller deutschen Frauen im Alter von 30 bis 49 Jahren. Das inländische Arbeitskräftepotenzial ist damit weitgehend ausgereizt. Höhere Löhne oder eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie könnten daran nichts ändern – wenn man von längeren Arbeitszeiten absieht. Die Arbeitszeitpolitik ist zwar wichtig, aber wie unsere Studie erläutert, sind ihre Möglichkeiten begrenzt. Denn um den Rückgang des Arbeitsvolumens zu stoppen, müsste die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit sowohl von Vollzeit- als auch Teilzeitbeschäftigten um ca. 20 Stunden erhöht werden. Das ist wenig realistisch und erstrebenswert.
Qualifizierte Zuwanderung ist Teil der Lösung, die Studie rechnet mit einer Mindestgröße
Auf der Basis dieser Prognosen kommen wir zu dem Ergebnis, dass die durchschnittliche Migration jedes Jahr bei mindestens 260.000 Nettozuzügen liegen müsste. Das ist übrigens gar nicht so viel, wie ein Blick auf die Vergangenheit zeigt: Die durchschnittliche Nettomigration nach der Wiedervereinigung lag bei fast 295.000 Personen und im Zeitraum 1991 bis 2014 bei 246.000 Personen.
Warum mindestens? Weil bei dieser Nettomigration die Zahl der gesamtwirtschaftlich benötigten Arbeitskräfte der Zahl der vorhandenen, in Deutschland lebenden Arbeitskräfte entspricht. Und das wäre zu wenig, wie unsere Studie am Rande erläutert. Die aktuelle Arbeitsmarktlage zeigt, was dann in Zukunft noch viel schärfer zutage treten würde: In einigen Regionen und insbesondere in einigen Berufen herrscht akuter Fachkräftemangel. Nicht nur Pflegekräfte, Handwerker und Ingenieure sind gefragt, sondern auch Ärzte, Techniker und Berufskraftfahrer. Das könnte sich in Zukunft verschärfen, vor allem auf regionaler Ebene, weil es leider auch künftig wohl Gegenden mit höherer Arbeitslosigkeit gibt, während andere Städte und Regionen boomen. Insofern ist der genannte Nettozuzug von 260.000 die untere Grenze, die im Durchschnitt für Gesamtdeutschland gilt.
Genauso wichtig wie die absolute Höhe der Migration ist die Qualifikation der Zuwanderer, was einerseits aus Sicht des Arbeitsmarktes bedeutsam ist, zugleich auch bei der Frage der Integration eine große Rolle spielt. Hier verweist unsere Studie auf ungelöste Probleme der Migrationspolitik, beispielsweise auf die Anerkennung von Berufsabschlüssen.
Erwerbstätige tragen entscheidend zur Finanzierung von Sozialstaat und Infrastruktur bei
Wenn man sehr pessimistisch mit noch massiveren Verlusten an Arbeitsplätzen rechnet, weil man die Auswirkungen der Digitalisierung unterschätzt oder weil man eine lang anhaltende wirtschaftliche Stagnation annimmt, würde rein rechnerisch der in der Studie berechnete Zuwanderungsbedarf geringer ausfallen. Da letztendlich die Zahl der Erwerbstätigen entscheidend für die Finanzierung des Sozialstaates (Rente, Pflege, Gesundheitswesen) und der gesamten Infrastruktur (wie Schulen, Straßen usw.) ist, hätte eine solche reale Entwicklung voraussichtlich weitreichende Verwerfungen zur Folge. Die gleichen Folgen hätte es übrigens, wenn aus demografischen Gründen das Arbeitskräftepotenzial zurückgeht: Arbeitsplätze könnten nicht besetzt werden, Betriebe würden schließen oder ihre Produktion ins Ausland verlagern, infolgedessen gäbe es weniger Erwerbstätige mit den genannten Folgen.
Prognosen sind trotz Unsicherheit eine wichtige Grundlage für eine vorausschauende Politik
Modellrechnungen sind mit Unsicherheit behaftet und beanspruchen nicht, die Zukunft vorherzusagen. Sie können aber Entwicklungen und Trends aufzeigen, die als Grundlage für eine vorausschauende Politik dienen. Dafür müssen die zugrunde gelegten Annahmen transparent gemacht und bei veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden. So hoffen wir, dass die Studie dazu beiträgt, aufzuzeigen, dass ein zu starker Rückgang des Arbeitskräfteangebots sich negativ auf den Wohlstand in unserem Land auswirkt und dass jetzt mit einem umfassenden Maßnahmenpaket reagiert werden muss. Dieses muss aus Ausbildung, Weiterbildung und Qualifizierung, Qualität der Arbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Zuwanderung bestehen.