Kinderarmut – was heißt es in Deutschland arm aufzuwachsen?
In Deutschland ist jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Als arm gilt ein Kind, wenn seine Familie Leistungen nach SGB II (umgangssprachlich Hartz-IV) bezieht oder über ein Einkommen verfügt, das weniger als 60 % des mittleren Einkommens beträgt. Seit Jahren verharrt diese Armutsbetroffenheit auf diesem hohen Niveau – und das, obwohl die deutsche Wirtschaft vor der Coronakrise boomte und viele neue familienpolitische Leistungen auf den Weg gebracht wurden. Mit der Initiative #StopptKinderarmut macht die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit vielen Partnern auf dieses Problem aufmerksam.
Kinderarmut bedeutet Mangel und Verzicht – und das über viele Jahre
„Dieses Jahr können wir nicht in den Urlaub fahren“ – im Jahr 2020 haben diesen Satz sicher einige Kinder von ihren Eltern gehört. Viele blieben in diesem Sommer zuhause, sei es aus Angst vor Ansteckung in Urlaubsgebieten oder aus finanziellen Gründen, wenn zum Beispiel ein Elternteil in Kurzarbeit war, Aufträge storniert wurden oder Kunden wegblieben. Für arme Kinder bleibt eine Woche Familienurlaub im Jahr aber ihre gesamte Kindheit ein unerfüllter Traum.
„Ich weiß, wie das ist nicht so viel Geld zu haben oder teuere Klamotten. Ich habe immer Klamotten von anderen bekommen, die meine Eltern kannten…“ *
An vielen Dingen, die für andere Gleichaltrige ganz normal sind, können arme Kinder und Jugendliche nicht teilhaben: neue Kleider, ein Kinobesuch, eine Mitgliedschaft im Sportverein oder die Möglichkeit, Freunde zu sich nach Hause einzuladen oder mal eine Feier zu veranstalten.
Ausgrenzung und Scham gehören zum Alltag
„Ich bin als kleines Mädchen in der Platte aufgewachsen, wir hatten nie viel Geld und keinen familiären Rückhalt. Das mit dem Mobbing, weil man gebrauchte Schulbücher und alte Kleidung hatte, kenne ich sehr gut. In der Schule konnte ich nicht mit auf Klassenfahrten oder zu Ausflügen.“
Wer aber nie mithalten oder mitmachen kann, wird schnell zum Außenseiter. Arme Kinder sind häufiger Opfer von Ausgrenzung und Gewalt. Und sie schämen sich für ihre Armut, obwohl sie nichts dafür können.
„Ich 14 schäme mich weil ich nicht so aufwachse kann wie andere obwohl ich nix dafür kann“
Viele versuchen ihre Situation zu verbergen, erfinden z.B. Ausreden, warum sie bei der Klassenfahrt nicht dabei sein können. Denn selbst wenn diese bezahlt würde, ist es oft sehr kompliziert, finanzielle Unterstützung zu beantragen. Außerdem schämen sich viele vor Lehrer:innen und Mitschüler:innen wenn sie ihre Lage offen eingestehen müssen. Und selbst wenn der Antrag genehmigt ist, bleibt immer noch die Frage, wo die Ausstattung für die Reise oder das Taschengeld herkommen soll.
Die Folgen für ihre Zukunft sind vielfältig
„ich hab meine kindheit damit verbracht geld zu verdienen um nicht auf der straße zu landen, musste meine träume aufgeben ich wollte immer künstlerin werden aber musste diesen traum aufgeben um mich wie sie es sagten realistischeres zu konzentrieren“
Wer von klein auf wenig Unterstützung erfährt, Mangel, Verzicht und Ausgrenzung erlebt, hat es auch im späteren Leben schwerer als andere, seine eigenen Ziele zu verwirklichen. Die Hälfte aller Kinder im SGB II-Bezug leben in Wohnungen ohne ausreichende Zimmer und ein Viertel hat keinen internetfähigen PC zuhause. Für diese jungen Menschen findet Lernen unter erschwerten Bedingungen statt; während der Coronakrise wurde das Homeschooling zum echten Problem. Bei gleichen Leistungen erhalten sie mitunter eine schlechtere Empfehlung für die weiterführende Schule als Kinder aus wohlhabenderen Elternhäusern, da ihnen weniger zugetraut wird. Ihr Netzwerk ist kleiner, die Erfahrungen außerhalb der Schule auf Aktivitäten beschränkt, die wenig kosten.
„Bei mir ist das auch so gewesen und mit 22 Jahren leider auch immer noch so. Mir sind die Hände gebunden durch Probleme und nicht vorhandenen Förderungen“
Oft müssen betroffene junge Menschen auch viel Zeit für Nebenjobs oder die Betreuung jüngerer Geschwister aufwenden. All dies führt dazu, dass sie seltener gute und höhere Abschlüsse erzielen, die eher in gute Jobs mit sicherer Bezahlung münden. Natürlich ist dies kein Automatismus, aber arme Kinder und Jugendliche müssen erheblich höhere Hürden überwinden, um das Gleiche zu erreichen wie andere junge Menschen.
Kinderarmut betrifft nicht alle gleich
Kinderarmut betrifft nicht alle Regionen in Deutschland gleichermaßen, und sie betrifft auch nicht alle Familienformen oder gesellschaftlichen Gruppen im gleichen Ausmaß.
„Nach der Trennung meiner Eltern und nachdem mein Vater aufgehört hat die Alimente zu zahlen, sind meine Geschwister, Mutter und ich auch in die Armut gerutscht. Das politische System hat in der Hinsicht zu viele Lücken; wir mussten 10 Monate auf Bearbeitung warten in denen wir fast auf der Straße gelandet wären.“
Kinder aus alleinerziehenden Familien oder mit mehr als zwei Geschwistern sind besonders häufig von Armut bedroht. Auch Kinder aus Familien, in denen die Eltern einen Niedriglohnjob haben, ein geringes Bildungsniveau oder einen Migrationshintergrund, leben häufiger als andere in Armut. Das Versprechen, dass alle Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft gleiche Chancen auf Bildung und Teilhabe haben, wird an dieser Stelle nicht eingelöst.
„Ich hasse diese Aussage: ‚Alle die von Hartz IV Leben sind Faul und wollen nicht arbeiten.‘ Mein Vater sucht seit fast 15 Jahren eine richtige Arbeit. Meine Mutter hat einen kleinen Job in einem Altenheim bekommen. Aber das reicht nicht zum Leben aus!“
Aber Kinderarmut geht uns alle etwas an
„For real ich bin Baff ich hätte nie damit gerechnet, dass Armut so ein großes Ding in Deutschland ist“
Auch wenn jedes fünfte Kind betroffen ist, so wissen dennoch viele nicht, dass es in Deutschland Armut gibt und was sie bedeutet. Viele bewegen sich nur in ihren eigenen gesellschaftlichen Kreisen und Milieus und kommen von klein auf zu selten mit Menschen in Berührung, die anders als sie selbst aufwachsen. Auch in der Schule ist Kinderarmut kein Thema.
„Mir war gar nicht bewusst wie viele Kinder in Deutschland unter schlechten Bedingungen leben.“
Manche fragen sich auch: Was geht mich dieses Thema an? Sehr viel! Denn erstens hat jedes Kind ein Recht auf gutes Aufwachsen und faire Bildungschancen. Zweitens aber hat es negative Folgen für unsere ganze Gesellschaft, wenn wir einem erheblichen Anteil an jungen Menschen gute Chancen verwehren: weniger Steuern und Einnahmen, aber mehr Ausgaben in den Bereichen Gesundheit, Kriminalität und für Sozialleistungen sind die Folgen, wenn Armut nicht wirksam vermieden wird. Junge Menschen, die in Armut aufwachsen, wissen zudem schon früh um ihre fehlenden Teilhabechancen und fühlen sich daher unserer Gesellschaft weniger zugehörig, engagieren sich seltener politisch und gehen auch seltener wählen.
Deshalb müssen wir auch alle etwas gegen Kinderarmut tun
Für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist es Gift, wenn wir bestimmte Gruppen nicht mehr so unterstützen, dass sie Teil des Ganzen sein können. Kinder und Jugendliche haben eine wichtige Stimme, die jedoch in unserer Gesellschaft viel zu selten Gehör findet. Das gilt umso mehr für benachteiligte junge Menschen.
„Ich realisiere jetzt erst wirklich wie gut ich es als Kind hatte… Wir hatten nie irgendwelche Geldprobleme und es hat auch nie an irgendwas gemangelt. Ich will jetzt zu meinen Eltern gehen und ihnen dafür danken! Und jedem irgendwie helfen der es nicht so gut hat/te…“
* Die im Text verwendeten Fakten rund um Kinderarmut sind dem Factsheet „Kinderarmut in Deutschland“ entnommen. Alle im Text verwendeten Zitate stammen aus Kommentaren von jungen Menschen unter den Videos der Initiative #StopptKinderarmut, die wir in der Broschüre „Welche Erfahrungen mit Armut machen junge Menschen in Deutschland?“ zusammengestellt haben. Mehr zu unserer Arbeit findet sich auf der Website der Initiative #StopptKinderarmut und unserer Projektseite „Familie und Bildung: Politik vom Kind aus denken“, mit zahlreichen Studien und Lösungsvorschlägen gegen Kinderarmut.