Ökologische Verantwortung für zukünftige Generationen
Inwiefern empfinden gegenwärtig in Deutschland lebende Menschen eine ökologische Verantwortung für zukünftige Generationen? Eine neue Studie von Dr. Isabell Diekmann (TU Dortmund) und Prof. Dr. Thomas Faist (Universität Bielefeld) auf Basis der Daten des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung zeigt: Eine Mehrheit von 77 Prozent der Befragten ist der Meinung, dass wir alle bereit sein sollten, unseren derzeitigen Lebensstandard zu reduzieren, um die Umwelt für zukünftige Generationen zu schützen. Dabei hat Religion einen positiven Einfluss auf die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Das sind zunächst einmal gute Nachrichten mit Blick auf die Bereitschaft zu intergenerationaler Gerechtigkeit.
Laut dem EU-Klimadienst Copernicus wird das Jahr 2024 mit großer Sicherheit das wärmste Jahr seit Beginn der Messungen und die globale Durchschnittstemperatur wird voraussichtlich erstmals über 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau liegen. Der Klimawandel ist also kein Zukunftsszenario mehr, sondern längst da. Durch den Klimawandel werden Extremwetterereignisse immer wahrscheinlicher. Seine verheerenden Konsequenzen zeigen sich bereits heute, etwa in Form von Überschwemmungen oder Waldbränden. Für nachfolgende Generationen werden die Konsequenzen des Klimawandels noch dramatischer ausfallen, obwohl gegenwärtige Generationen, in erster Linie die reichen Industrienationen, maßgebliche Verursacherinnen des Klimawandels sind.
Auch der globale Erdüberlastungstag, also der Tag, an dem die Ressourcen für das Jahr aufgebraucht sind und damit der Zeitpunkt, ab dem wir auf Kosten zukünftiger Generationen leben, verschiebt sich zunehmend nach vorne. Im Jahr 1987 wurde dieser noch am 3. Oktober erreicht. Im Jahr 2024 waren unsere Ressourcen bereits am 1. August aufgebraucht – in Deutschland sogar bereits am 2. Mai.
Die daraus resultierende intergenerationale Ungleichheit identifizieren die Sozialwissenschaftler Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser daher in ihrem Buch „Triggerpunkte“ als eine von vier relevanten Ungleichheitsarenen (Heute-Morgen-Ungleichheiten).
Ein genauerer Blick auf die Daten des Religionsmonitors 2023 zeigt, dass es hinsichtlich der Bereitschaft zu eine Lebensstandardreduzierung aus ökologischer Verantwortung nicht auf die Zahl der eigenen Kinder oder das Einkommen ankommt. Auf die Frage nach der Zustimmung zur Aussage „Um die Umwelt für zukünftige Generationen zu schützen, sollten wir alle bereit sein, unseren derzeitigen Lebensstandard zu reduzieren“ antworteten mehr als drei Viertel der Befragten mit Zustimmung.
Entscheidend für die Bereitschaft, individuell Verantwortung zu übernehmen und den eigenen Lebensstandard zu senken, ist stattdessen vielmehr die subjektive Einschätzung von Klimawandel als Gefahr. Diese ernst zu nehmen und daraus resultierende Zukunftsängste zu empfinden, scheint die Bereitschaft zur Veränderung zu erhöhen, selbst wenn dies bedeutet, nach heutigen Maßstäben Einbußen hinzunehmen und den eigenen Lebensstandard zu reduzieren.
Menschen, die den globalen Klimawandel als große Gefahr einschätzen, sind mit einem Anteil von 87 Prozent in deutlich größerem Maße bereit, Veränderungen im individuellen Lebensstil vorzunehmen.
Menschen, die den globalen Klimawandel als große Gefahr einschätzen, sind mit einem Anteil von 87 Prozent in deutlich größerem Maße bereit, Veränderungen im individuellen Lebensstil vorzunehmen, um die Umwelt für künftige Generationen zu schützen, im Vergleich zu Menschen, die im Klimawandel keine Bedrohung sehen (40 Prozent). Möglicherweise verfügen erstere über eine ausgeprägtere Empathie für klimawandelgeprägte Lebensrealitäten künftiger Generationen und empfinden eine größere Verantwortung dafür, diese nicht noch düsterer aussehen zu lassen als ohnehin prognostiziert.
Menschen, die bereits heute ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl aufweisen – sei es für Menschen, die schon gegenwärtig unter den Klimawandelfolgen leiden, wie etwa Opfer von Naturkatastrophen, oder für die Natur im Allgemeinen, – sind mit einem Anteil von 91 Prozent eher zur Verantwortungsübernahme für zukünftige Generationen bereit als jene, die sich nicht verantwortlich fühlen für Mensch und Natur (34 Prozent). Die Aufmerksamkeit bereits heute auf die Betroffenen von Klimawandelfolgen und auf Umweltschutz zu lenken, könnte also möglicherweise helfen, die Perspektive auch auf künftige Generationen zu erweitern und an die ökologische Verantwortung zu appellieren.
Die Studie hat außerdem gezeigt, dass religiöse Menschen im Vergleich zu nicht-religiösen Menschen ein leicht erhöhtes Verantwortungsbewusstsein für zukünftige Generationen aufweisen. Nächstenliebe und die Bewahrung der Erde sind Werte, die in einigen Religionen verankert sind. Wichtig bleibt allerdings festzuhalten, dass die Studie Religiosität (was auch immer dies genau für die Befragten bedeutet) untersucht hat und nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion.
Ein letzter untersuchter Faktor schließlich, bezieht sich auf die Weiterentwicklung von Technologien. In Debatten um Klimawandel und Umweltzerstörung wird oftmals zwischen Mitigation, also Linderung, und Adaption, also Anpassung, unterschieden. Neue Technologien können beide Ansätze unterstützen. Die Daten des Religionsmonitors 2023 zeigen, dass diejenigen, die der Meinung sind, dass Wissenschaft und Technologie unser Leben in Zukunft verbessern werden, gleichzeitig eher bereit sind, ökologische Verantwortung für künftige Generationen zu übernehmen (78 versus 59 Prozent). Menschen, die Wissenschaft und neuen Technologien positiv gegenüberstehen, schieben ihre individuelle Verantwortung also nicht vollständig in den Bereich technologischer Lösungen ab, sondern sind bereit, im Hier und Jetzt ihren Lebensstandard zum Wohle nachfolgender Generationen zu reduzieren.
Diejenigen, die der Meinung sind, dass Wissenschaft und Technologie unser Leben in Zukunft verbessern werden, sind gleichzeitig eher bereit , ökologische Verantwortung für künftige Generationen zu übernehmen.
Die Klimakrise und die Überschreitung anderer planetarer Grenzen lassen sich selbstverständlich nicht durch individuelle Lebensstandardreduzierungen allein lösen, das ist klar. Es handelt sich hierbei um ein strukturelles Problem, das auch strukturell und auf politischer Ebene angegangen werden muss. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass wir uns mit dem Problem des Wachstumszwangs im Kapitalismus auseinandersetzen müssen.
Gleichwohl ist eine individuelle Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme wichtig, denn zur Bearbeitung der Klimakrise und mit Blick auf planetare Grenzen sollten die individuelle und strukturelle Ebene Hand in Hand gehen. Nur so kann das klassische „Henne-Ei-Problem“ und damit die Frage, wer den ersten Schritt geht, überwunden werden. Dass etwa 77 Prozent der Menschen in Deutschland bereit sind, individuelle ökologische Verantwortung für künftige Generationen zu übernehmen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung politischer Maßnahmen und struktureller Veränderungen und damit wegbereitend für eine globale, sozial gerechte, ökologische Transformation.
Zur Studie: Diekmann, Isabell / Faist, Thomas (2024): Does the Future Have a Lobby? Environmental Degradation and Perceived Environmental Responsibility towards Future Generations. In: Environmental Sociology. URL: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/23251042.2024.2422460
Methodensteckbrief Religionsmonitor: Die Daten für den Religionsmonitor 2023 hat das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erhoben. Für die Umfrage in Deutschland wurde eine Melderegisterstichprobe eingesetzt, ergänzt durch eine Zusatzstichprobe auf Basis eines OnlineAccessPanels; beide Stichproben wurden miteinander verknüpft. Der Religionsmonitor 2023 setzt die Befragungen der Vorgängerwellen der Jahre 2009, 2013 und 2017 fort und bezieht sich auf die Bevölkerung in Deutschland ab 16 Jahren.
Weitere Befragungen fanden in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Polen, Spanien und den USA auf Basis von Online-Access-Panels statt. Grundgesamtheit der internationalen Studienmodule war die in den jeweiligen Ländern lebende Bevölkerung mit Internetzugang im Alter ab 16 Jahren.
Der Gesamtdatensatz umfasst insgesamt 10.657 Befragte und setzt sich wie folgt zusammen: Deutschland = 4.363 Befragte, Frankreich = 1.065, Großbritannien = 1.045, Niederlande = 1.051, Spanien = 1.046, Polen = 1.046, USA = 1.041. Die Befragungen fanden im Juni und Juli 2022 statt.