Deutschland am Scheideweg: Wie die Zukunft der Brandmauer aussehen könnte
Noch nie wurde so heftig über die Brandmauer diskutiert wie im zurückliegenden Jahr 2025: Im Januar wurde erstmals im Deutschen Bundestag ein Antrag mithilfe der AfD verabschiedet. Es folgten wochenlang Proteste im ganzen Land unter dem Motto „Wir sind die Brandmauer“. Immer wieder gab es auch in den folgenden Monaten öffentliche Diskussionen zum Umgang mit der AfD, im Oktober sogar eine CDU-Klausurtagung zu dem Thema. Wird es im nächsten Jahr nun vermehrt zur Kooperation mit der AfD kommen, gerade mit Blick auf die anstehenden fünf Landtagswahlen 2026?
Alle großen, etablierten Parteien in Deutschland haben sich in Parteibeschlüssen selbst dazu verpflichtet, nicht mit der AfD zu kooperieren. Diese Selbstverpflichtung ist im Sprachgebrauch inzwischen besser unter dem Namen Brandmauer bekannt. Auf lokaler Ebene gibt es zwar bereits vermehrt Brüche in dieser Brandmauer, laut einer Studie allerdings bisher nur in etwa 10-20% der Fälle.[i] Dabei werden keine großen Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Regionen deutlich. Auf Landes- und Bundesebene wird sogar noch seltener mit der AfD kooperiert. Wie wahrscheinlich ist es also, dass eine der etablierten Parteien ihre Selbstverpflichtung über Bord wirft und die AfD 2026 Teil einer Landesregierung wird?
Hier hilft ein Blick nach Schweden und Belgien. Schweden steht beispielhaft für ein schnelles Ende der Brandmauer, wurde die rechtsextreme Partei hier doch nach etwas mehr als 10 Jahren akzeptiert. Belgien stellt das Gegenbeispiel dar. Hier hält die Abgrenzung zur rechtsextremen Partei Vlaams Belang (VB) seit Jahrzehnten und war sogar erfolgreich darin, den Zuspruch für die Partei zu verringern. Dieser Vergleich kann uns zeigen, welche Faktoren wichtig für das Überleben der Brandmauer sein können: Etablierte Parteien müssen sich glaubwürdig zu ihrer Selbstverpflichtung bekennen und sich der Themen der isolierten Partei annehmen.
Das schnelle Ende der Brandmauer in Schweden
Lange Zeit galt Schweden als europäisches Vorbild für eine stabile Abschottung gegenüber rechtsextremen Parteien.[ii] Die Schwedendemokraten (SD) – eine rechtsextreme, populistische Partei, die aus der ehemaligen Schwedenpartei entstanden ist – schafften 2010 erstmals den Einzug ins schwedische Parlament. Während andere Parteien sich hauptsächlich mit wirtschaftlichen oder sozialen Themen beschäftigten, fokussierte sich die SD auf das Thema Migration. Auf nationaler Ebene schlossen damals alle Parteien jegliche Form der Kooperation mit der SD aus. Seit 2012 gab es zwar ein paar Fälle von punktueller Kooperation mit der SD auf lokaler Ebene und erste Rufe nach dem Ende der Brandmauer, aber die SD wurde auf nationaler Ebene weiterhin erfolgreich isoliert. Erst sechs Jahre später, im Jahr 2018, gab es auf lokaler Ebene die ersten Fälle, in denen die SD von anderen Parteien regelmäßig in die Entscheidungsfindung eingebunden wurde.[iii]
2022 – 12 Jahre nach dem erstmaligen Einzug der SD ins schwedische Parlament – fiel die Brandmauer allerdings endgültig und die SD wurde offizielle Unterstützerin der neuen Minderheitsregierung. Sie ist zwar nicht selbst Teil der Regierung und stellt keine Minister, aber es gibt eine klare, schriftliche Vereinbarung der Regierungsparteien mit der SD zur Kooperation in sechs Themengebieten.[iv] Bei diesen sechs Themen hat die SD so einen besonders großen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der schwedischen Regierung. Auch sonst haben viele etablierte Parteien den Diskurs und die Positionen der SD übernommen. Obwohl die SD also anfangs isoliert wirkte, konnte sie sich doch zunächst auf lokaler und später auch auf nationaler Ebene etablieren – alles innerhalb von nur etwas mehr als 10 Jahren.
Obwohl die SD also anfangs isoliert wirkte, konnte sie sich doch zunächst auf lokaler und später auch auf nationaler Ebene etablieren – alles innerhalb von nur etwas mehr als 10 Jahren.
Die stabile Brandmauer in Belgien
Im Gegensatz zu Schweden hält die Brandmauer in Belgien seit mehr als 30 Jahren. Die Partei Vlaams Belang, wie auch ihr Vorgänger Vlaams Blok, konzentrierte sich ursprünglich auf die Unabhängigkeit der Flämischen Region in Belgien. Aber schon bald nach ihrer ersten Gründung im Jahr 1979 fing VB an, auch andere, rechtsextreme und populistische Positionen zu vertreten.[v] Deshalb wird die Partei von allen anderen belgischen Parteien konsequent isoliert, sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene.[vi] Zunächst schien diese Strategie jedoch keine Wirkung zu zeigen, konnte VB ihren Stimmanteil doch in allen regionalen und nationalen Wahlen von 1985 bis 2004 jeweils verbessern. In der Spitze kam sie auf einen Stimmanteil von 24%. Allerdings begann die Zustimmung für die Partei danach kontinuierlich zu sinken, bis hin zu einem Stimmanteil von nur noch 12% im Juni 2010.
Die belgische Brandmauer hielt nicht nur, sie leistete im Endeffekt sogar einen Beitrag zum Rückgang der isolierten Partei. Zu Beginn versuchten Politiker der VB noch, sich als Opfer der etablierten Parteien darzustellen, die sie auf undemokratische Weise von einer Regierungsbeteiligung ausschließen würden. Die anderen Parteien ließen sich davon jedoch nicht beirren. Stattdessen führten sie die Abgrenzung gegenüber der VB fort und setzten sich gleichzeitig aktiv mit den Themen auseinander, die der VB ihre hohen Zustimmungswerte beschert hatte. So wurde der Partei die Grundlage für ihren Erfolg genommen: Ohne eigene Themen und ohne Aussicht auf Regierungsbeteiligung machten viele Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz nicht mehr bei der VB. Die Brandmauer wirkte. Als Reaktion wechselte die VB ihre Parteiführung, strukturierte sich um und wurde moderater in ihren Positionen.[vii]
Zwei Wegweiser für Deutschland
Mit Blick auf die Brandmauer in Deutschland kann uns dieser Vergleich mit Schweden und Belgien zwei Dinge zeigen:
- Eine glaubwürdige Brandmauer kann die isolierte Partei schwächen. Wenn klar ist, dass die Partei permanent in der Opposition bleiben wird – ohne Chance, ihre Pläne umzusetzen – kann ihr Wahlerfolg eingedämmt werden, wie in Belgien. Wird die Brandmauer aber als brüchig wahrgenommen, verliert sie oft ihre Wirkung. Denn die Aussicht, dass die isolierte Partei bald in Regierungsverantwortung kommt, motiviert die Wählerinnen und Wähler, wie in Schweden. Es kommt also nicht unbedingt darauf an, wie stabil die Brandmauer tatsächlich ist, sondern eher darauf, als wie stabil sie wahrgenommen wird.
Es kommt also nicht unbedingt darauf an, wie stabil die Brandmauer tatsächlich ist, sondern eher darauf, als wie stabil sie wahrgenommen wird.
- Gleichzeitig sollten sich die anderen Parteien aber auch der Themen der isolierten Partei annehmen. So werden sie als Alternative wahrgenommen und können Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen. Gerade das war der Schlüssel zum Erfolg in Belgien. Sich der Themen anzunehmen, heißt dabei jedoch nicht, blind die Positionen der isolierten Partei zu übernehmen. Vielmehr sollten die anderen Parteien eigene, demokratische Antworten finden auf die Probleme, die von der isolierten Partei angesprochen werden.
Der Blick nach Schweden und Belgien bietet so wertvolle Hinweise für die zukünftige Entwicklung der Brandmauer in Deutschland. Auch wenn die Abgrenzung gegenüber der AfD auf lokaler Ebene in 80-90% der Fälle hält, ist der Ruf der Brandmauer dennoch schlecht. Durch ständige Diskussionen wird der Eindruck erzeugt, sie würde schon längst bröckeln. Damit die Brandmauer stabil bleiben kann, muss aber Vertrauen in sie geschaffen werden. Nur wenn sich Politikerinnen und Politiker aktiv zu ihrer Selberverpflichtung bekennen, wird klar, dass die AfD ihre Positionen auf lange Sicht nicht umsetzen kann. Wenn sich die anderen Parteien gleichzeitig der Themen der AfD annehmen, kann die Brandmauer ihre erhoffte Wirkung entfalten. Das Beispiel Belgiens zeigt, wie dies gelingen kann. Das Beispiel Schwedens zeigt allerdings auch, wie schnell rechtsextreme Parteien akzeptiert werden können. Welchen Weg Deutschland einschlägt, den Belgiens oder den Schwedens, könnte sich schon im kommenden Jahr entscheiden.
[i] Schroeder, W., Ziblatt, D., & Bochert, F. (2025). Hält die Brandmauer? Eine gesamtdeutsche Analyse: Wer unterstützt die AfD in den deutschen Kreistagen (2019-2024) (No. SP V 2025-501). WZB Discussion Paper.
[ii] Heinze, A. S. (2018). Strategies of mainstream parties towards their right-wing populist challengers: Denmark, Norway, Sweden and Finland in comparison. West European Politics, 41(2), 287-309.
[iii] Leander, C. (2025). Local coalition formation: Municipal level decisions (not) to govern with the Sweden Democrats. Local Government Studies, 51(5), 943-964.
[iv] Jungar, A. C. (2022). Normalising the Pariah: The Sweden Democrat Path from Isolation to Government. Friedrich-Ebert-Stiftung.
[v] Pauwels, T. (2011). Explaining the strange decline of the populist radical right Vlaams Belang in Belgium: The impact of permanent opposition. Acta Politica, 46(1), 60–82.
[vi] Biard, B. (2021). Challenging the Cordon Sanitaire in Belgium: 79A diachronic analysis. In Belgian Exceptionalism (pp. 78-92). Routledge.
[vii] Sijstermans, J. (2021). The Vlaams Belang: A mass party of the 21st century. Politics and Governance, 9(4), 275-285.