Das Eigene und das Fremde
Nach dem rauschenden Applaus ist Stille eingetreten. Es ist nichts zu hören im Saal, außer das gespannte Atmen des Publikums und der Schritte des Mannes, der die Bühne betritt.
„Es war einmal eine Gemeinde mit zwei Stadtvierteln“, beginnt er ruhig und gleichmäßig zu erzählen. Die Zuhörer lauschen gespannt. „Die Bewohner der einen Hälfte wohnten schon lange dort, sie teilten gemeinsame Erinnerungen und waren einander verbunden“. Es ist Joachim Gauck, der das Publikum in seinen Bann zieht. Sie alle sind an die Universität Düsseldorf gekommen, um seine erste Vorlesung im Rahmen der Heinrich-Heine-Gastprofessur zu hören, die sich dem „Nachdenken über das Eigene und das Fremde“ widmet.
„Die Neusiedler hingegen“, erzählt Gauck weiter, „besaßen kaum gemeinsame Geschichte und tiefere Bindungen. Und während die einen genau wussten, wer welchen Platz in der Gesellschaft einnahm, und sich dementsprechend verhielten, blieben die anderen außen vor, weil sie die Regeln, aus Unkenntnis, nicht befolgten“, fährt er fort. „So lebten die beiden Gruppen unverbunden nebeneinander her, jeder fühlte sich einer anderen Wir-Gruppe zugehörig und jeder grenzte sich von dem jeweils anderen ab“.
Es ist die Studie des deutsch-jüdischen Soziologen Norbert Elias, die Gauck als Aufhänger seines Vortrags wählt und die uns Aufschluss darüber gibt, wie Exklusion funktioniert: „Fremde müssen keineswegs immer aus einem anderem Land oder einer anderen Kultur stammen. Es reicht, dass sie Unbekanntes verkörpern und dadurch Verunsicherung auslösen“, erklärt Gauck.
Fremde bedeuten deshalb das „Fehlen von Klarheit“, sagt er weiter und bezieht sich dabei auf den jüdisch-polnischen Soziologen Zygmunt Bauman. Fremde sind eben nicht klassifizierbar, sie lösen Irritationen aus. Nicht selten überträgt man die eigenen schlechten Eigenschaften auf eine „fremde“ Gruppe. „Man adelt dadurch die eigene Gruppe“, erzählt Gauck weiter. Die Geschichte der zwei Stadtviertel in einer Gemeinde zeigt: Fremdheit oder Befremdung sind feste Bestandteile der Geschichte der Menschheit.
Der Mensch wird Fremde finden, auch wenn es keine Zugezogenen mehr gibt.
„Er findet sie am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Großfamilie“, so Gauck. Denn es ist leichter, das „Unbekannte, das Ängstigende, das Verunsichernde auf Distanz zu wahren, als es in sich selbst wahrzunehmen und zu wissen“. Der Fremde existiert eben schon solange, wie es den Menschen gibt.
Dieser menschliche Reflex, die Irritation die das Fremde auslöst, das Übertragen der eigenen schlechten Eigenschaften auf den Anderen, birgt jedoch bedrohliche Potenziale.
Die Gefahr der Projektionen
Auf die Projektion der eigenen schlechten Eigenschaften auf die einer anderen Gruppe folgt häufig die Ausgrenzung von Menschen. „Das muss nicht gleich massiv sein, sondern Schritt für Schritt, verbunden mit einer Entmenschlichung des Anderen, bis schließlich Krieg und Vernichtung einen Schlusspunkt setzen, mit denen das Humanum verabschiedet ist“, warnt Gauck. Mit trauriger Stimme fügt er hinzu: „Schrecklicherweise ist diese Erfahrung auf immer in die deutsche Nationalgeschichte eingeschrieben“.
Daher müsse einer feindseligen Atmosphäre entgegengewirkt werden. Denn wenn diese erstmal geschaffen ist, „kann eine reale Auseinandersetzung schnell zum Funken werden, der den Brand entzündet“, so Gauck. „Gewaltfreie Veränderungen setzen voraus, dass wir die Fremden entfeinden und das Eigene entidealisieren“, erklärt er.
Ambivalenzen zulassen
Wir Menschen lieben Klassifizierungen und wissen am liebsten, wer uns gegenübersteht: Freund oder Feind. Und der Fremde ist dann gefährlich, weil man ihn nicht einzuordnen weiß. Davon müssen wir uns befreien. Denn Ambivalenzen begleiten unser ganzes Leben. Und eben diese Widersprüchlichkeiten gilt es zu akzeptieren. „Das mag schwer sein, aber letztlich ist es doch auch entlastend. Und es vergrößert die Chance, im Fremden das zu entdecken, was wir Bereicherung nennen – das noch nicht Gedachte, noch nicht Praktizierte, das, was unseren Horizont erweitert“, fährt Gauck überzeugend fort.
Heimat und das Bedürfnis der Verwurzelung in der modernen Welt
In einer zunehmend globalisierten Welt, in der territoriale Grenzen eine geringere Rolle spielen, in der eine Regulierung der Migration nur nationenübergreifend geführt werden kann, ist ein „universalistisches und kosmopolitisches Denken wesentlich geeigneter, Antworten auf die Herausforderungen und Probleme der Zeit zu finden – das liegt doch auf der Hand“, findet Gauck. In der jüngsten Vergangenheit, das zeigen die erstarkten populistischen Bewegungen in vielen Teilen der Welt, ist jedoch das Bedürfnis der „Verwurzelung der Menschen im Eigenen“ unterschätzt worden, so Gauck. Die Angst vor dem Fremden werde mittlerweile begleitet durch die Angst, das Eigene könnte durch die neuen, modernen Entwicklungen verloren gehen. „Es ist nur eine Fiktion, aber eine weit verbreitete“, beschreibt er. Deshalb stellt er sich die Frage, ob der moderne, gegenwärtige Nationalstaat in der Lage dazu ist, dieses Bedürfnis der Menschen nach Beheimatung, einer stabilen kulturellen Identität in Zeiten von Entgrenzung und Globalisierung zu befriedigen, ohne dabei Konflikte zu schüren oder nationalistischen Denken zu befeuern.
Gauck beantwortet die Frage selbst: „Der Nationalstaat darf nicht ausgrenzend werden, er muss denkbar und praktizierbar als eine offene Gesellschaft sein, mit Platz für das Fremde und das Neue“. Die Verankerung in einer Nation, ein nationales Selbstbewusstsein steht dabei keineswegs im Widerspruch zu einem kulturellen Internationalismus oder kosmopolitischen Denken. Das habe schon der österreichische Schriftsteller Jean Améry erkannt. Eine individuelle Verankerung, ein positives Gefühl zu einer Nation kann einer Offenheit förderlich sein. „Wer ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, vermag neue Perspektiven zu entwickeln und zu integrieren“, sagt Gauck. Und dabei spricht er nicht über die abschüssige Linie zum Übermut. „Ich spreche über die Ich-Stärke. Eine Beheimatung bei sich selbst“.
Die Nation neu denken
Nationen, so Gauck „sind keine Erscheinungen von überzeitlicher Gültigkeit“. Das bedeutet, dass es uns freisteht, Nation als Gemeinschaft auch anders zu denken, als die Gründer der Nationalstaaten es damals getan haben. „Diese Freiheit sollten und müssen wir uns nehmen“, findet Gauck. „Wer die Nation positiv bewertet, muss keinesfalls beim Nationalismus enden“. Wir müssen eine Gemeinschaft denken, die Verschiedenheit, die Ambivalenzen zulässt. „Denn Verschiedenheit kreiert Neues, sie stachelt Neugier an und treibt den Menschen zur Erweiterung von Wissen und Erfahrung“.
Damit das Neudenken gelingt, müssen wir negative Projektionen und festgefahrenes Denken in Kategorien überwinden.
„Um uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem Land zu verständigen, brauchen wir vor allem eines: Mehr Wissen übereinander. Mehr Dialog. Mehr Bereitschaft im jeweils anderen, unsere eigenen Ängste zu überwinden.“
Das mag mühsam sein. Aber es gibt Anlass zu Optimismus. Das zeigt die Geschichte, von der Gauck in seinem Vortrag berichtet und die uns vielleicht an eine Geschichte erinnert, die wir alle schon einmal erlebt haben. Die kleine Geschichte, die Gauck erzählt, handelt von der ersten Begegnung mit seiner Urenkelin: Einige Tage nach der Geburt habe sie ihn unbefangen angelächelt, war ihm zugetan. Wenige Wochen später jedoch wandte sie sich ab, fremdelte. Das Lächeln war verschwunden. Sie beäugte ihn sogar misstrauisch. Doch nach einiger Zeit und Beobachtung, streckte sie vorsichtig die Hand nach ihm aus. „Es braucht Zeit“, so Gauck.
Überwinden wir unsere Angst vor dem Fremden. Strecken wir häufiger unsere Hände zum Anderen aus. Und geben wir uns Zeit.