Bröckelt die Mittelschicht in Deutschland?

Eine starke und florierende Mittelschicht ist die Basis einer soliden Wirtschaft und einer wohlhabenden Gesellschaft. Sie sorgt in einem Land nicht nur für ein höheres Maß an sozialem Vertrauen, sondern auch für bessere Bildungsergebnisse, weniger Kriminalität, eine gesündere Bevölkerung und eine höhere Lebenszufriedenheit. Doch wie steht es um die Mittelschicht in Deutschland? Wer gehört zu ihr und wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt? Inwiefern bringen die großen strukturellen Trends die Mittelschicht ins Wanken und schafft es die Soziale Marktwirtschaft, ihr Aufstiegsversprechen einzulösen?

In einer gemeinsamen Studie mit der OECD hat die Bertelsmann Stiftung die Mittelschicht in Deutschland umfassend analysiert. Das Ergebnis: Während die mittlere und obere Mittelschicht weitgehend stabil geblieben sind, bröckelte vor allem die untere Mitte und auch die Chancen, aus den unteren Einkommensgruppen in die Mittelschicht aufzusteigen, haben sich deutlich verschlechtert.

Wer gehört zur Mittelschicht?

Die Mittelschicht ist ein komplexes und nicht einheitlich definiertes soziales Konstrukt. Während einige Definitionen Einkommen, Beruf oder Beschäftigung heranziehen, beziehen andere auch soziale und kulturelle Faktoren mit ein. Vieles spricht dafür, dass das verfügbare Einkommen als sinnvolle Approximation der Mittelschicht dienen kann, zum Beispiel, weil es den Lebensstandard bedingt und stark mit anderen relevanten Aspekten wie Bildung, Beruf und gesellschaftlichem Status korreliert.

Gemäß einer solchen einkommensbasierten Definition der OECD gehören all jene Personen zur Mittelschicht, die in Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen zwischen 75 und 200 Prozent des nationalen mittleren Einkommens leben. 2018 entsprach diese Spanne einem monatlichen verfügbaren Einkommen von 1.500 bis 4.000 Euro für eine alleinstehende Person und von 3.000 bis 8.000 Euro für ein Paar mit zwei Kindern.

Deutsche Mittelschicht ist geschrumpft – insbesondere bis 2005

Während 1995 noch 70 Prozent der gesamten Bevölkerung zur mittleren Einkommensgruppe zählten, waren es 2018 nur noch 64 Prozent. Der stärkste Rückgang fand in den frühen 2000er Jahren statt, als sich die Einkommensunterschiede in Deutschland vergrößerten. Dabei bröckelte die Mittelschicht vor allem am unteren Rand (75-100 Prozent des Medianeinkommens) und hat sich seither trotz zwischenzeitlich guter Wirtschaftslage nicht erholt. Fragt man danach, welche Berufsgruppen in diesem Bereich vorzufinden sind, so sind dies beispielsweise Bürofachangestellte, Pflegehilfskräfte, Verkäufer:innen oder auch Beschäftigte in der Gastronomie und LKW-Fahrer:innen.

Allerdings steigen die Realeinkommen nach langer Stagnation seit 2015 wieder. Auch erste Befunde zur Einkommensentwicklung während der Coronakrise deuten darauf hin, dass aufgrund umfassender staatlicher Maßnahmen wie dem Kurzarbeitergeld, diese Entwicklung für untere und mittlere Einkommen zunächst weiter anhält. Doch wie sich die Pandemie mittel- und langfristig auf die mittleren Einkommen auswirken wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.

Soziodemografische Zusammensetzung der Mittelschicht hat sich verändert

Die deutsche Mittelschicht ist schneller gealtert als die Gesamtbevölkerung und vor allem für junge Menschen wird es immer schwieriger, sich ihren Platz in der Mittelschicht zu sichern. Berufstätige Paare machen fast die Hälfte der Haushalte in der Mittelschicht aus und haben ihre relative Chance, zur Mittelschicht zu gehören, erhöht. Zudem ist das Bildungsniveau gestiegen, wobei Erwachsene mit Abitur oder abgeschlossener Berufsausbildung immer noch den Großteil der Mittelschicht (58 Prozent) bilden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Zugewanderte der Mittelschicht angehören, ist geringer als Mitte der 1990er Jahre, was jedoch die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland widerspiegeln könnte. Darüber hinaus variiert die Größe der Mittelschicht regional stark, je nach betrachtetem Bundesland zwischen 54 und 67 Prozent der jeweiligen Bevölkerung, und ist dabei in Städten deutlich stärker geschrumpft als in ländlichen Regionen.

Gestiegenes Abstiegsrisiko und gesunkene Aufstiegschancen

Die Einkommensmobilität in Deutschland hat sich zwischen 1995 und 2018 verschlechtert, insbesondere im Zuge des allgemeinen wirtschaftlichen Abschwungs Mitte der 2000er Jahre. Zu dieser Zeit sanken für Personen der oberen Mitte (150 bis 200 Prozent des Medianeinkommens) die Chancen, in die Gruppe der hohen Einkommen (>200 Prozent des Medianeinkommens) aufzusteigen, während für jene der unteren Mittelschicht das Risiko, aus der Mitte abzusteigen, einen Höchststand erreichte. Zuletzt rutschte mehr als jede fünfte Person aus der unteren Mittelschicht in die untere Einkommensschicht (<75 Prozent des Medianeinkommens). Gleichzeitig sind die Chancen, in die Mittelschicht aufzusteigen, deutlich gesunken. Dennoch schafft es knapp jede:r Dritte aus der unteren Einkommensgruppe (zurück) in die Mittelschicht.

Besonders betroffen: Jüngere, Personen mit geringer Bildung, Beschäftigte in Teilzeit und mit niedrigen Erwerbseinkommen

Der Anteil der 18- bis 29-Jährigen, die zur Einkommensmitte gehören, ist mit einem Rückgang von 10 Prozentpunkten überdurchschnittlich stark gesunken. Ein ähnliches Bild zeichnet auch der Generationenvergleich: Während es noch 71 Prozent der Babyboomer:innen (Jahrgänge 1955 bis 1964) nach dem Start ins Berufsleben in die Mittelschicht schafften, gelang dies nur noch 61 Prozent der Millenials (Jahrgänge 1983 bis 1996). Zudem werden eine gute Ausbildung und ein Studium immer wichtiger. Der Anteil der 25- bis 35-Jährigen, die es ohne Abitur oder Berufsausbildung in die Mittelschicht schaffen, ist mit 27 Prozentpunkten drastisch zurückgegangen und betrug zuletzt 40 Prozent. Demgegenüber sank der Anteil für jene mit einem abgeschlossenen Studium lediglich um 5 Prozentpunkte. Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass Teilzeit und niedrige Erwerbseinkommen Barrieren für die Zugehörigkeit zur Mittelschicht auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass es zunehmend ein zweites gutes Einkommen im Haushalt braucht, um zur Mittelschicht zu gehören.

Weitere Herausforderungen für die deutsche Mittelschicht

Prognosen für das Beschäftigungswachstum (die vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie erstellt wurden) zeigen, dass die Beschäftigung in derzeitigen Berufen der Mittelschicht bis 2030 um insgesamt etwa 4,5 Prozent wachsen dürfte. Allerdings deuten sie auch auf eine mögliche weitere Polarisierung der Berufe hin, welche bereits in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen hat: Berufe, die eine hohe oder geringe Qualifikation erfordern, dürften stark nachgefragt werden. Demgegenüber fallen Beschäftigungsentwicklungen in Berufen mit mittlerer Qualifikation geringer aus; für Handwerks- und Gewerbeberufe sowie für Büroangestellte sind sogar negative Veränderungsraten zu erwarten. Zudem arbeitet jede:r Sechste in der Mittelschicht in einem Beruf, welcher in hohem Maße automatisierbar ist. Allerdings bleibt abzuwarten, in welchem Ausmaß die Coronakrise und ihre Folgen noch Einfluss auf die Entwicklung und Zusammensetzung der Mittelschicht haben werden.

Handlungsempfehlungen für eine stärkere Mittelschicht

1. Aufstiegschancen für jüngere Generationen verbessern

Trotz der allgemein guten Arbeitsmarktsituation junger Menschen in Deutschland, hat etwa jede:r Siebte zwischen 25 und 34 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur. Vor allem die durch die Pandemie entstandenen Bildungsrückstände durch fehlende Ausbildungsplätze müssen dringend aufgeholt werden, um weitere Hürden auf dem Weg in die Mittelschicht zu verhindern. Ein Ansatzpunkt wäre eine Ausbildungsgarantie, wie es sie in Österreich seit 2008 schon gibt und die – wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt – auch für Deutschland positive Effekte hätte.

2. Anreize und Möglichkeiten für Weiterbildung und Umschulung schaffen

Der strukturelle Wandel wird laufende Veränderungen der Arbeitsplätze und der für sie erforderlichen Qualifikationen mit sich bringen. Für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit über den gesamten Erwerbsverlauf ist es wichtig, die Attraktivität von Weiterbildung und Umschulung zu steigern. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise der Anspruch auf einen umfangreichen bezahlten Bildungsurlaub, so wie er in Österreich ausgestaltet ist.

3. Arbeitsbedingungen und Entlohnung von Pflegekräften verbessern

Nicht zuletzt die Coronakrise hat gezeigt, dass Berufe, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, wie zum Beispiel in der Pflege, für unsere Gesellschaft systemrelevant sind. Die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften im Gesundheits- und Langzeitpflegebereich sowie in der Kinderbetreuung hat das Potential, viele gute „Mittelschichtsjobs“ zu schaffen. Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor wie bspw. Löhne, Arbeitszeit und -belastung sowie der Aufstiegsmöglichkeiten sind dafür von zentraler Bedeutung.

4. Erneuerung der Infrastruktur in Deutschland

Um den Strukturwandel zu meistern, muss Deutschland deutlich mehr in die öffentliche Infrastruktur investieren. So könnten beispielsweise Investitionen in den Breitbandausbau dazu beitragen, die Produktivität und die Innovationsfähigkeit von Unternehmen zu steigern und damit die Schaffung guter Arbeitsplätze, auch in ländlichen Gebieten, zu unterstützen.

5. Steuerliche Belastung von Arbeitseinkommen verringern

Haushalte der Mittelschicht in Deutschland sind mit einer hohen effektiven Steuerbelastung ihrer Arbeitseinkommen konfrontiert. Um den sogenannten Mittelstandsbauch abzuflachen, könnten die Anhebung der unteren Schwellenwerte für die Besteuerung mittlerer Einkommen oder die Senkung der Grenzsteuersätze Optionen sein. Auch die Verlagerung der Steuerlast auf Kapitaleinkünfte und die Abschaffung von Ausnahmen bei der Erbschaftsteuer können zur Entlastung beitragen.

6. Anreize für Frauen zur Ausweitung der Erwerbsarbeit verbessern

Frauen arbeiten deutlich häufiger als Männer in Teilzeit und in Jobs, für die sie überqualifiziert sind. Indem es Frauen ermöglicht wird und auch entsprechende Anreize geschaffen werden, mehr zu arbeiten, könnten Haushaltseinkommen erhöht und die Einkommensposition von Haushalten der Mittelschicht gestärkt werden. Zentral hierfür sind Reformen der Minijobs und des Ehegattensplittings sowie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Für die Politik gibt es somit ein vielseitiges Tableau an Handlungsoptionen, um die Mittelschicht nicht nur zu stabilisieren, sondern längerfristig auch zu stärken – dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Zusammenhalts von großer Bedeutung.

Eine Zusammenfassung der ausführlichen Studie kann in unserer Highlightsbroschüre „Bröckelt die Mittelschicht? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ nachgelesen werden.