Willkommenskultur im Aufbruch? Bevölkerung sieht vermehrt Chancen von Zuwanderung

Regelmäßig (2015 , 2017 und 2019 ) befragen wir die Bevölkerung zur „Willkommenskultur“ in Deutschland. Dabei erheben wir Wahrnehmungen, Einschätzungen und Einstellungen in Bezug auf Migration, Integration und das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft. Die Ergebnisse unserer aktuellen Umfrage zeigen: Chancen von Zuwanderung werden inzwischen (wieder) von mehr Menschen gesehen und bei der Integration rücken strukturelle Hindernisse wie Ungleichbehandlung stärker ins Blickfeld.

Chancen von Migration, insbesondere für die Wirtschaft, sehen heute (wieder) mehr Menschen als in den vergangenen Jahren. Im Nachgang zur so genannten „Fluchtkrise“ gab es in der Umfrage 2017 zum Teil einen Einbruch positiver Einschätzungen bezüglich der Folgen von Zuwanderung. Seitdem zeigt sich nun aber ein Aufwärtstrend. Dass Zuwanderung für die Ansiedlung internationaler Firmen wichtig sei, meinen heute gut zwei Drittel (68 %) der Befragten (2019: 63 %; 2017: 56 %). Mehr als die Hälfte (55 %) ist der Meinung, dass Zuwanderung einen Ausgleich für den Fachkräftemangel hierzulande schaffen könne (2019: 47 %; 2017: 41 %). 65 Prozent erwarten eine geringere Überalterung (2019: 64 %; 2017 65 %) und 48 Prozent meinen, Zuwanderung habe Mehreinnahmen der Rentenversicherung zur Folge (2019: 41 %; 2017: 34 %).

 

Skeptische Haltungen gegenüber Zuwanderung sind in Deutschland weiterhin verbreitet, doch im Zeitvergleich sind sie zurückgegangen. Am größten ist die Sorge, dass Zuwanderung zusätzliche Belastungen für den Sozialstaat zur Folge haben könnte. Diese Einschätzung teilen heute 67 Prozent der Befragten (2019: 71 %; 2017: 79 %). Befürchtungen, Zuwanderung würde Probleme in den Schulen mit sich bringen, sind stark zurückgegangen: von 68 Prozent (2017) bzw. 64 Prozent (2019) auf 56 Prozent (2021). Ein leichter Rückgang zeigt sich auch bei der Sorge um Wohnungsnot in Ballungsräumen als möglicher Folge von Zuwanderung (2021: 59 %; 2019: 60 %; 2017: 65 %).

Migrant:innen und junge Menschen sehen das Zusammenleben in Vielfalt positiver

Bei den wirtschaftlichen Folgen von Zuwanderung liegen Befragte mit und Befragte ohne Migrationshintergrund in ihren Einschätzungen ziemlich nah beieinander. Dagegen gibt es größere Unterschiede bei den Fragen nach den Folgen von Zuwanderung für das soziale Miteinander: Migrant:innen sehen das Zusammenleben in Vielfalt positiver. 74 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund sind der Ansicht, Zuwanderung mache das Leben in Deutschland interessanter (ohne Migrationshintergrund: 64 %). Dass Zuwanderung zu Konflikten zwischen Einheimischen und Zugewanderten führe, meinen nur 56 Prozent der Migrant:innen im Vergleich zu 68 Prozent bei den Befragten ohne Migrationshintergrund. Letztere sehen mit 58 Prozent mehrheitlich Probleme in Schulen als Folge von Zuwanderung; bei den Menschen mit Migrationshintergrund sind es dagegen lediglich 47 Prozent.

Besonders ausgeprägte Unterschiede zeigen sich auch zwischen den Generationen. Diese deuten auf sehr unterschiedliche Lebenswelten der jüngeren und älteren Befragten hin. So teilt eine große Mehrheit der jungen Menschen unter 30 Jahre (76 %) die Meinung, Zuwanderung mache das Leben in Deutschland interessanter. Bei den Menschen über 60 schließt sich zwar ebenfalls eine Mehrheit dieser Ansicht an, doch fällt die Zustimmung mit 57 Prozent deutlich geringer aus. Noch weiter gehen die Einschätzungen bei der Frage nach den Schulen auseinander. Dass Zuwanderung dort zu Problemen führe, meinen gut zwei Drittel der Älteren (68 %), gegenüber lediglich gut einem Drittel (37 %) der Jüngeren.

Eine Mehrheit sieht mangelnde Chancengleichheit als Integrationshindernis

Bei der Frage nach den größten Integrationshindernissen belegen unzureichende Sprachkenntnisse noch immer mit großem Abstand den ersten Platz (84 %). Im Zeitvergleich hat dieser Aspekt aber an Bedeutung verloren (2019 und 2017: 91 %) und zugleich hat sich die Wahrnehmung struktureller Hürden für Integration innerhalb der Aufnahmegesellschaft verfestigt bzw. leicht verstärkt. So sehen 66 Prozent der Befragten mangelnde Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt (2019: 63 %; 2017: 65 %) und 62 Prozent Diskriminierung aufgrund der Herkunft (2019: 58 %; 2017: 59 %) als Integrationshindernisse. Stark zurückgegangen ist dagegen die Ansicht, mangelnde Bildung der Zugewanderten stelle eines der größten Integrationshindernisse dar (2021: 51 %; 2019: 60 %; 2017: 66 %).

Eine große Mehrheit ist zudem der Ansicht, Migrant:innen seien im Staats-, Verwaltungs- und Bildungswesen nicht angemessen repräsentiert. Nur rund ein Drittel sieht Migrant:innen in Politik (36 %) und Polizei (33 %) adäquat vertreten; im Hinblick auf die Ämter der öffentlichen Verwaltung sind es sogar nur 29 Prozent. Auch beim Personal in Kitas und Schulen meint nur ein knappes Drittel (32 % bzw. 30 %) der Befragten, dass Menschen mit Migrationshintergrund dort in angemessener Zahl vertreten seien. Der Anteil der Menschen, die finden, es sollten neue Gesetze gegen Benachteiligung geschaffen werden, ist im Zeitverlauf gestiegen, zuletzt vor allem im Bereich der Behörden: Für neue gesetzliche Antidiskriminierungsregelungen in diesem Kontext sprechen sich 50 Prozent der Befragten aus (2019: 44 %; 2017: 37 %).

Willkommenskultur im Aufbruch?

Die Daten der aktuellen Umfrage lassen sich so interpretieren, dass die Willkommenskultur in Deutschland langsam, aber stetig Fortschritte macht. Unter Umständen hat zu der positiveren Sicht auf Migration und Integration auch die Coronapandemie beigetragen. Denn während dieser Zeit haben die Menschen konkreter erfahren, was es bedeutet, wenn in zentralen Bereichen der „Kritischen Infrastruktur“, wie Gesundheit, Lebensmittelversorgung oder Logistik, Arbeitskräfte fehlen – und Migrant:innen arbeiten besonders häufig in solchen systemrelevanten Berufen. Nicht zuletzt ist auch durch die schlagartige Bekanntheit der Gründer:innen des Impfstoff-Entwicklers BioNTech, Özlem Türeci und Uğur Şahin, der gesellschaftliche Beitrag von Migrant:innen für viele Menschen sichtbarer geworden.

Hinzu kommt die in letzter Zeit auch politisch und medial präsentere Diskussion um die Folgen des demografischen Wandels angesichts des nun bald bevorstehenden Renteneintritts der Babyboomer:innen. Diese werden in der Arbeitswelt rein quantitativ eine große Lücke hinterlassen und später das schon heute überlastete Pflegesystem noch weiter unter Druck bringen. Auch dieser Diskurs könnte einen stärker chancenorientierten Blick auf Zuwanderung angeregt haben.

Bei der Integration zeigt sich eine leichte Verschiebung in der Wahrnehmung von Rollen und Verantwortlichkeiten. Es offenbart sich eine höhere Sensibilität für strukturelle Probleme innerhalb der Gesellschaft, die Integration erschweren. Die Verantwortung der Aufnahmegesellschaft im Integrationsprozess wird etwas stärker akzentuiert. Möglicherweise haben die auch in Deutschland in den letzten Jahren mit großer medialer und politischer Resonanz geführten Debatten über Identität und Diskriminierung – etwa unter den Stichworten „Me Too“ oder „Black Lives Matter“ – hier ihre Spuren hinterlassen.

Für die Studie Willkommenskultur zwischen Stabilität und Aufbruch: Bertelsmann Stiftung (bertelsmann-stiftung.de) hat das Meinungsforschungsinstitut Kantar EMNID 2.013 Menschen in Deutschland ab 14 Jahren repräsentativ befragt. Die Befragung fand zwischen dem 3. und 10. November 2021 statt. Die Daten erlauben Vergleiche zu den vorhergehenden Studien zur Willkommenskultur, welche die Bertelsmann Stiftung im Oktober 2012, Januar 2015, Januar 2017 und April 2019 durchgeführt hat.