Die religiöse Dimension des Krieges in der Ukraine und die globalen Konsequenzen
Die religiöse Dimension des Krieges in der Ukraine ist vor allem in den Kirchen und unter Theolog:innen viel thematisiert worden. Neben die Erschütterung über die Brutalität der russischen Armee in der Ukraine und die Skrupellosigkeit der russischen Kriegspropaganda im eigenen Land tritt eine Fassungslosigkeit über die Unterstützung des Krieges durch eine der größten christlichen Kirchen der Welt, die Russische Orthodoxe Kirche. Das Ausmaß der ideologischen Verstrickung der Kirche in den Krieg, aber auch die globalen Konsequenzen der russischen Kirchenpolitik sind jedoch nicht nur für die Kirchen relevant, sondern für unsere demokratischen Gesellschaften insgesamt.
Religiöse Elemente in der Kriegs-Ideologie und ihre Adressaten
Die Rolle der Religion in der Ideologie der russischen politischen Eliten wird seit vielen Jahren breit diskutiert. Mit der Eskalation des Krieges in der Ukraine erhielten diese Diskurse neuen Auftrieb, da Wladimir Putin den militärischen Einmarsch in die Ukraine ausdrücklich mit der Verteidigung der orthodoxen Gläubigen gegen ein angebliches Nazi-Regime rechtfertigte. Daneben erläutert Putin seine historische Konstruktion eines größeren Russlands auf der Grundlage des Konzepts der Heiligen Rus‘, eines heiligen Raums, der mit der Taufe Wladimirs im Jahr 988 in der Nähe von Kiew entstand und von bestimmten Werten und Traditionen geprägt ist. Sowohl die Annexion der Krim im Jahr 2014 als auch die jetzige Invasion sind in diese Formulierung der kulturellen Einheit eingebettet, die es politisch zu sichern gilt. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) als Erbin dieses historischen Narrativs untermauerte das Konzept der Einheit mit einer spirituellen Dimension. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen, zum einen innerhalb der Russischen Föderation und zum anderen im nahen und ferneren Ausland.
Innerhalb der Russischen Föderation wird der Begriff der Einheit zunehmend sakralisiert und als Instrument gegen demokratische Diskussionen oder interne Opposition eingesetzt. Außerhalb Russlands stellt dieses Konzept der geistigen Einheit die Identität und Unabhängigkeit der Ukraine und Belarus in Frage, auch wenn die ROK immer behauptet, nationale Grenzen und Souveränität zu respektieren. Tatsächlich aber beansprucht sie das Recht, die kulturelle, religiöse, gesellschaftliche sowie politische und wirtschaftliche Ausrichtung der Ukraine und Belarus zu definieren.
In Putins Ansprache richtet sich der Appell an die Einheit an die russische Bevölkerung, er verwandelt das Empfinden kultureller Zusammengehörigkeit in nationalistische Ansprüche. Die Russische Orthodoxe Kirche hat lange zu dieser politischen Auslegung ihrer geistlichen Einheit geschwiegen. Nun aber wird die militaristische Aggression als „Verteidigung des Vaterlandes“ gerechtfertigt und zusätzlich durch die angeblich notwendige Verteidigung gegen den liberalen Westen legitimiert.
Der Appell an die Einheit der „Russischen Welt“ verwandelt kulturelle Zusammengehörigkeit in nationalistische Ansprüche
Es ist viel über das Konzept der „Russischen Welt“ gesagt worden, das sich aus diesen Verweisen auf einen gemeinsamen geistigen und kulturellen Raum entwickelt hat. Mit diesem maßgeblich von Patriarch Kirill entwickelten Konzept werden die geografischen Grenzen der Länder der Heiligen Rus‘ bewusst verschoben. Die „Russische Welt“ umfasst auch alle Menschen und Gemeinschaften, die sich mit ihren besonderen Werten identifizieren. Das von Kristina Stoeckl und anderen beschriebene „moralische Unternehmertum“ der Russischen Föderation und russischer Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hatte durch die Verwendung des Narrativs der Kulturkriege einen erheblichen Einfluss auf westliche konservative Akteure und die Neue Christliche Rechte. Deshalb richten sich Putins Verweise auf die Idee hegemonialer Einflusszonen auch an diese transnationale rechts-konservative Gemeinschaft, die Putin und die ROK als Verteidiger des traditionalistischen und antimodernen Teils der Welt favorisiert.
Der Verweis auf verfolgte Christen als Rechtfertigung für Verteidigungsmaßnahmen auf fremden Territorien verdient besondere Aufmerksamkeit.
Dieses Argument wurde durch eine unverhältnismäßig große Berichterstattung über „Verletzungen der Rechte von Gläubigen“ in der Ukraine seit 2018 vorbereitet. Zu diesem Zeitpunkt lösten die Gründung der unabhängigen Orthodoxen Kirche der Ukraine eine Welle von sozialem Druck und vereinzeltem Vandalismus gegen die Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine aus, sie wurde als Instrument russischen Einflusses in der Ukraine gebrandmarkt und zog sich aus vielen gesellschaftlichen Diskursen komplett zurück. Allerdings kam es nie zu einer staatlichen systematischen Verfolgung, die UOK ist bis heute die Religionsgemeinschaft mit den meisten Gemeinden.
Jenseits der Ukraine verstärkten sowohl die ROK als auch der russische Staat ihr Engagement für verfolgte Christen im Nahen Osten, in Afrika und in Europa und schufen so einen menschenrechtlichen Rahmen für den Anspruch, der einzige globale Akteur zu sein, der diesem brennenden Thema genügend Aufmerksamkeit schenkt. Als Putin behauptete, sich mit dem Einmarsch für die Verteidigung orthodoxer Christen in der Ukraine einzusetzen, stützte er sich auf diesen international anerkannten Rahmen. Zweifelsohne kann diese Dimension leicht auf andere Teile der Welt ausgedehnt werden und stellt wahrscheinlich eine noch größere Bedrohung für die internationale Gemeinschaft dar als die russische Weltideologie.
Über den Krieg in der Ukraine hinaus: Globale Konsequenzen
Alle drei religiös begründeten Argumente der russischen kriegstreibenden Ideologie haben Relevanz für die Gesellschaften in Westeuropa, und auch der Krieg an sich wird die religiöse Landschaft Europas nachhaltig beeinflussen.
Zum einen ist der angebliche Konflikt zwischen liberalen und konservativen Werten bereits seit vielen Jahren eine globale Herausforderung. Auch in Deutschland haben Akteure der Neuen Christlichen Rechten gesellschaftlich Einfluss gewonnen und prägen Diskurse über Religionsfreiheit, geschlechtliche Selbstbestimmung und Demokratie. Die ROK ist seit langem eine bedeutende Kraft in der international vernetzten ultra-konservativen Szene, es gibt jedoch nur wenige Fachleute, die diese Vernetzungen untersuchen und sichtbar machen. Auch wenn dieses Problem besonders im US-amerikanischen Kontext auch gesellschaftspolitische Brisanz entwickelt hat, sollte der Werte-Diskurs und die mit ihm verbundenen Polarisierungen und Gewaltpotentiale auch in Deutschland große Aufmerksamkeit erfahren.
Zum zweiten betrifft die Spannung zwischen den orthodoxen Kirchen in der Ukraine und Russland auch die verschiedenen orthodoxen Gemeinden und ihre ökumenischen Verbindungen in Deutschland. Nachdem das Ökumenische Patriarchat im Januar 2019 die Orthodoxe Kirche der Ukraine anerkannt hat, brach das Patriarchat von Moskau den Kontakt mit dieser und auch den drei weiteren Kirchen ab, die die neue Kirche anerkannten (die Kirchen von Griechenland, Zypern und das Patriarchat von Alexandrien). Dies führte zu einer zunehmenden innerorthodoxen und ökumenischen Isolation der Gemeinden des Moskauer Patriarchats.
Viele russisch-orthodoxen Gemeinden stehen vor einer Zerreißprobe: Billigung der Loyalität der Moskauer Kirche zum Kreml oder Distanzierung von der eigenen Kirchenleitung?
Unter den Bedingungen des Krieges stehen viele russisch-orthodoxe Gemeinden vor der Zerreißprobe zwischen ihrer Zugehörigkeit zum Moskauer Patriarchat, welches den Krieg rechtfertigt und Loyalität zu dem von ihr vertretenen Weltbild einfordert, und den Gläubigen aus verschiedenen Ländern – auch aus der Ukraine – sowie den neu ankommenden Flüchtlingen. Es gibt bereits erste Übertritte von Gemeinden oder Priestern zu anderen Jurisdiktionen in Westeuropa, aber auch erste Fälle von Vandalismus gegen Kirchen des Moskauer Patriarchats. Die Orthodoxe Bischofskonferenz von Deutschland hat sich deutlich gegen den Krieg ausgesprochen, die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland wird mit jedem weiteren Tag des Krieges mutiger in ihrer vorsichtigen Distanzierung von der eigenen Kirchenleitung.
Die nationale Zugehörigkeit als Ordnungssystem der orthodoxen Kirchen steht seit einigen Jahren in der theologischen Kritik und wird nun auf globaler Ebene neu verhandelt, jedoch nicht als theologische oder kirchenrechtliche Frage, sondern als Frage politisch-ideologischer Grenzziehungen. Das birgt auch die Gefahr, bestimmte politische oder ideologische Vorstellungen an nationale Kirchen zu binden, was der Vielfalt jeder einzelnen Kirche und der Orthodoxie insgesamt nicht gerecht wird. Für Deutschland heißt das auch, dass die Kenntnisse über die Orthodoxie bildungspolitisch besser verankert werden müssen, um zum einen die gesellschaftliche und politische Relevanz der Kirchen zu verstehen, aber auch um Stereotypisierungen und Polarisierungen angemessen begegnen zu können.
Monitoring von Verletzungen der Religionsfreiheit muss berücksichtigen, wo der Einsatz für verfolgte religiöse Gruppen gleichzeitig für ideologische Ziele ausgenutzt wird
Schließlich und drittens bedarf die Rede von den „verfolgten Christen“ besonderer Aufmerksamkeit. Auch das Re-Framing des Menschenrechtsdiskurses durch konservative Akteure ist nicht neu, es betraf bereits den Gender-Diskurs mit Verweis auf die Religions- und Meinungsfreiheit und die Fragen der reproduktiven Rechte mit Verweis auf das Lebensrecht. Die Kollision und das Ausbalancieren verschiedener Menschenrechte ist eine andauernde Aufgabe internationaler und nationaler Gerichte und Gremien. Im Fall der Religionsfreiheit kommt erschwerend hinzu, dass die ROK in ihrer Soziallehre sehr deutlich individuelle Rechte und Freiheiten und kollektive Rechte gegeneinander ausspielt und damit durchaus auch Menschen mit ihrer individuellen Glaubensentscheidung vereinnahmt.
Internationales und nationales Monitoring von Verletzungen der Religionsfreiheit muss sehr genau unterscheiden, wo der Einsatz für verfolgte religiöse Gruppen gleichzeitig für ideologische Ziele ausgenutzt wird, so wie jetzt in der Ukraine. Außerdem sollte der aktuelle Umgang der ROK mit Religionsfreiheit im eigenen Land und der Missbrauch dieses Arguments in der Ukraine die Vorsicht unter Partnerorganisationen erhöhen, ob diese Kirche ein geeigneter Partner im Kampf für verfolgte Christen weltweit, etwa in Syrien oder in Afrika, ist. So wichtig dieses Anliegen ist, so wenig darf es für einen ideologischen Kampf instrumentalisiert werden.