Die Russisch-Orthodoxe Kirche – Hoffnungsträger einer sich gedemütigt fühlenden Nation?

Eine besonders traurige Rolle im Krieg Russlands gegen die Ukraine spielt die Russisch-Orthodoxe Kirche. Sie stellt sich nicht an die Seite der Schwachen und Verfolgten, sondern hofiert dem Gewaltherrscher und bietet ihm ein ideologisches Rüstzeug. Wie kommt die Kirche zu dieser fatalen Rolle? Warum verschwand sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre nicht in der Bedeutungslosigkeit wie so manche andere Kirche in der ehemaligen kommunistischen Hemisphäre? Es liegt im Wesentlichen daran, dass sie ihr kompromittierendes Bündnis mit den Machthabern zu keiner Zeit aufgab, kaum eine Diskussion ihrer Fehler zuließ und ihr Angebot einer religiös-ethnischen Identität begierig von einer desorientierten Bevölkerung aufgegriffen wurde.

Als die Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre zusammenbrach, schrieb eine deutliche Mehrheit der russischen Bevölkerung der Russisch-Orthodoxen Kirche die Aufgabe zu, sie möge zur Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins beitragen. Nach ihrer jahrzehntelangen grausamen Unterdrückung mit Zigtausenden von Opfern wurde die orthodoxe Kirche innerhalb kürzester Zeit zum Hoffnungsträger einer gedemütigten Nation. Ausgelöst durch den Verlust des Weltmachtstatus und verstärkt durch den wirtschaftlichen Niedergang Russlands in den 1990er Jahren empfanden viele Russen den Zusammenbruch des Sowjetreiches als eine nationale Katastrophe. Noch Jahre später bezeichneten ihn etwa 50 Prozent der Russen als eine Schande. Anfang der 1990er Jahre war der Nationalstolz in Russland so gering wie in kaum einem anderen ost- und ostmitteleuropäischen Land.

Und tatsächlich stieg die Zahl derjenigen, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, die Zahl der Gottgläubigen gar von 44 auf 78 Prozent. Und parallel dazu wuchs auch der Nationalstolz. 1992 waren es nur 13 Prozent, die die Russen als ein großes Volk ansahen, dem ein spezieller Platz in der Weltgeschichte zukomme, heute sind es 62 Prozent. Die viel zitierte Renaissance der Religion in Russland geht in erster Linie nicht auf die tiefe Verwurzelung der Orthodoxie in der russischen Kultur, auf familiäre Sozialisation und das Wirken der frommen Babuschkas oder auf überzeugende religiöse und soziale Angebote der Kirche zurück, sondern darauf, dass die orthodoxe Kirche nach 1992 zur Trägerin nationaler Identität aufstieg. Seit Jahrzehnten meint in Russland eine satte Mehrheit, um ein wahrer Russe zu sein, müsse man orthodox sein.

Eine Mischung von Überlegenheitsansprüchen und Demütigungsgefühlen

Dieses religiös aufgeladene Nationalbewusstsein ist alles andere als harmlos. Die meisten Russen (69 Prozent) halten die russische Kultur gegenüber anderen für überlegen. 77 Prozent sind stolz auf ihre religiöse Identität. Noch 1999 sah nur ein Drittel der Russen in Russland eine Supermacht; heute behaupten dies drei Viertel. Aber schon in den 1990er Jahren, als das nationale Selbstbewusstsein noch gering war, sprachen sich knapp drei Viertel dafür aus, dass Russland eine Supermacht sein solle. Heute meinen dies knapp 90 Prozent. Dabei wird der russischen Nation vor allem die Funktion zugewiesen, ein Gegengewicht gegen den Einfluss des Westens zu bilden. Nach den Erhebungen des Pew Research Centers von 2017 sind es 85 Prozent der Russen, die diese Erwartung hegen.

Zugleich ist in Russland das Gefühl nationaler Demütigung weit verbreitet. Man sieht sich durch fremde Kulturen bedroht, und ein Anteil von über 70 Prozent denkt, dass Russland viele Feinde habe. Nach der Annexion der Krim und den Kämpfen in der Ostukraine, für die drei Viertel der Russen die westlichen Länder und die prowestliche Regierung der Ukraine, aber nur 2 Prozent Russland verantwortlich machten, ist dieser Anteil nicht geringer geworden. Der ausgeprägte Nationalstolz erweckt den Eindruck, als würde eine sich angegriffen fühlende Nation im Modus der kulturellen Selbstbehauptung agieren. Einerseits grenzt man sich gegenüber dem Westen ab, beansprucht Überlegenheit über andere Nationen und stattet die eigene Nation mit imperialen Ansprüchen aus. Auf der anderen Seite scheint man an die eigene Stärke aber auch nicht so recht zu glauben. Seit Jahren ist es eine klare Mehrheit, die sagt, »wir sind ein großes Volk und ein reiches Land, aber wir leben permanent in Unordnung und Armut«. Das interpersonale Vertrauen ist schwach, ebenso das Vertrauen in die politischen Parteien und das Parlament, hoch dagegen das Vertrauen in die Armee und in die Kirche. Das nationale Selbstbewusstsein zieht seine Kraft vor allem aus den großen Erfolgen in der Vergangenheit, aus dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945, aus der großen literarischen Tradition Russlands, aus den technischen Leistungen bei der Erkundung des Weltalls sowie aus der angeblichen Geduld und Unerschütterlichkeit des russischen Volkes. Die orthodoxe Kirche steht für diese einstige Größe Russlands. Ihr kommt wesentlich die Funktion zu, die Erinnerung an diese Größe wachzuhalten.

Die Allianz von Kirche und Staat

Das Nationalgefühl profitiert von der Kirche und die Kirche profitiert vom Staat. Die Russisch-Orthodoxe Kirche erhält seit Jahren staatliche Gelder und wird finanziell und rechtlich gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt. Immer wieder ist der Präsident neben dem Patriarchen zu sehen. 2007 wurde ein neues Schulfach »Grundlagen der orthodoxen Kultur« eingeführt, das an staatlichen Schulen für alle Schüler:innen, unabhängig davon, ob sie der Kirche angehören, Pflichtfach ist. Umgekehrt ist der Patriarch seit Jahren ein verlässlicher Unterstützer der politischen Linie des Kreml. In einer seiner letzten Predigten bezeichnete Kyrill I. die Feinde Russlands als „Kräfte des Bösen“. Putin und Kyrill teilen anscheinend ein ähnliches Weltbild: Russland ist das angegriffene Opfer westlicher Mächte; der Kampf Russlands ist ein Kampf des Guten gegen das Böse; Russland muss sich schützen und für seine bedrohte Identität eintreten. Dass der Patriarch als besondere Gefahren für die russische Kultur ausgerechnet kulturellen Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt ausmacht, ist keineswegs nur eine taktische Finte, um konservative Gläubige zu gewinnen. Homophobie, Xenophobie und Homogenitätsvorstellungen sind essentiell für die orthodox-autokratische Weltsicht. Kyrill überhöht den Angriff Russlands auf die Ukraine und steigert ihn ins Metaphysische: Hier stehen himmlische und höllische Mächte miteinander im Kampf.

Hinter dem gemeinsamen Kampf von Präsident und Patriarch gegen westliche Werte steht der Wille, Russland zu alter Größe zurückzuführen. Für Putin und Kyrill ist Russland eine große, unbesiegbare Nation, die in der Welt nicht die Anerkennung erfahre, die ihr gebühre. Ihr Bemühen um die Wiederherstellung eines imperialen Russland speist sich aus einer gefährlichen Mischung von Demütigungsgefühlen und Überlegenheitsansprüchen. Anstatt die Wirtschaftsleistung zu stärken, verfolgt die Regierung das Projekt einer Stärkung des Nationalbewusstseins, das die eigene Kultur überhöht und für alle Probleme im Land den Westen verantwortlich macht. Hier treffen sich die Geisteshaltungen Putins und Kyrills, denn nach orthodoxer Vorstellung ist Russland ein heiliges Land, das seit der Taufe der „Kiewer Rus“ im Jahr 988 die Ukraine einschließt und durch fremde Kulturen nicht entweiht werden darf.

Das enge Verhältnis von Staat und Kirche hat in Russland eine lange Tradition, die bis ins mittelalterliche Byzanz zurückreicht. Während die katholische Kirche im lateinischen Westen zu dieser Zeit oft als Gegengewicht zu Königen und Kaisern agierte, bildeten Patriarchat und Kaisertum in Ostrom eine enge Allianz. Die Sowjetherrschaft, die heute gerne verharmlosend dargestellt wird, zerstörte weite Teile der orthodoxen Kirche, ermordete Priester, verfolgte Gläubige, riss Kirchengebäude nieder oder transformierte sie in Schwimmhallen oder Getreidespeicher. Den Resten dieser Kirche raubte der Kreml die Autonomie und diskreditierte sie nachhaltig, indem er sie geheimdienstlich unterwanderte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte aber nicht etwa die Aufarbeitung der Verstrickungen der orthodoxen Kirche in die Fänge des kommunistischen Regimes, vielmehr suchten ihre Repräsentanten den schnellen Schulterschluss mit den neuen Machthabern.

Unter den Kirchenmitgliedern lassen sich gegenwärtig allerdings auch gegenläufige Tendenzen beobachten. Unter dem Mantel der Politisierung des Religiösen ist überraschenderweise auch ein kleines Segment einer kirchlich engagierten Religiosität entstanden, das sich anscheinend gegen die politische Instrumentalisierung der Religion wehrt. So stellen etwa Frauengruppen in Russland die Verzahnung von Staat und Religion in Frage. Hoffnung erweckt jedoch vor allem die junge Generation der Bevölkerung, in der sich eine beachtliche Offenheit für Demokratie und liberale Werte findet, die nach einer neueren Studie etwa so stark ist wie in der Ukraine. Ob diese Kräfte in Russland an öffentlicher Sichtbarkeit und sozialer Bedeutung gewinnen, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, unter anderem von der Bereitschaft des Systems zur rücksichtslosen Repression, aber auch vom weiteren Kriegsverlauf.

Detlef Pollack lehrt Religionssoziologie an der Universität Münster. Am 9. März 2022 ist die zweite Auflage seines gemeinsam mit Gergely Rosta verfassten Buches Religion in der Moderne (Campus) erschienen, das auch ein Kapitel zur Wiederkehr der Religion in Russland enthält.