Von der zweiten Aufbaugeneration zu neuen Unternehmer:innen
In Deutschland sinkt seit Jahren die Zahl von Selbständigen, Unternehmer:innen und Gründer:innen, der Unternehmensbestand nimmt ab. Das ist schlecht, weil es ohne Menschen, die ins unternehmerische Risiko gehen, kein Wohlstandswachstum und keine Beschäftigung geben kann. Eine Gruppe stemmt sich gegen diesen Trend: Menschen mit Migrationshintergrund. Trotzdem wird ihr Beitrag oft übersehen. Wie steht es in Deutschland um die Wahrnehmung „migrantischer“ Unternehmer:innen? Wo kann Politik ansetzen, um Potenziale zielgenau zu heben? Hierauf gehe ich in diesem Beitrag ein.
Deutschland fehlen nicht nur Fachkräfte, sondern auch Unternehmer:innen
2021 wurde vielfach an das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei von 1961 erinnert. Dieses und weitere Abkommen hatten ein klares Ziel: Sie sollten den Mangel an Arbeitskraft in der auf Hochtouren laufenden Wirtschaft der noch jungen Bundesrepublik kompensieren. Der Weg der Männer und Frauen, die auf Grundlage der Anwerbeabkommen nach Deutschland kamen, war vorgezeichnet: er führte in eine Beschäftigung in der deutschen Industrie.
Tausende Zugewanderte arbeiteten fortan an Fließbändern und Hochöfen oder fuhren in den Schacht ein. Sie sorgten dafür, dass das junge deutsche Wirtschaftswunder nicht einfach in sich zusammenfiel, weil die Arbeitskräfte fehlten. Einen besseren Begriff als den der „Gastarbeiter:in“ hatte man für diese zweite Aufbaugeneration damals nicht parat.
Die deutsche Gesellschaft und die deutsche Wirtschaft haben sich in den 60 Jahren, die seither vergangen sind, grundlegend verändert. Die deutsche Gesellschaft ist viel heterogener als damals. Denn die zweite Aufbaugeneration wurde heimisch. Ihre Nachfahren leben heute in zweiter, dritter und zum Teil schon vierter Generation in Deutschland. Und weitere Menschen kamen nach.
Auch das Wirtschaftsmodell Deutschlands hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten gewandelt. Es ist weniger von arbeitsintensiver Industrie geprägt als damals. Aber auch heute suchen wieder viele Betriebe händeringend nach Fachkräften. Denn trotz Zuwanderung lässt der demographische Wandel den Bedarf an Erwerbspersonen immer weiter – und ab 2024 voraussichtlich sprunghaft – anwachsen.
Der Wirtschaft gehen die Unternehmer:innen aus
Wenig beachtet wird in dieser Diskussion, dass die deutsche Wirtschaft auch an anderer Stelle unter einen wachsenden Mangel leidet, der bedrohlich ist: Der Wirtschaft gehen die Unternehmer:innen aus. Seit Jahren sinken Selbständigenquote und Unternehmensbestand. Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ist der Gesamtbestand an Unternehmen zwischen 2011 und 2018 um 8.500 Unternehmen geschrumpft.
Dies ist eine Gefahr für Wohlstand und wirtschaftliche Dynamik des Landes. In einer Marktwirtschaft muss es immer wieder Menschen geben, die ins unternehmerische Risiko gehen. Ohne sie gibt es keine Unternehmen, keinen funktionierenden Arbeitsmarkt, keine Innovationen, kann kein Wohlstand erarbeitet werden.
Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund sind heute ein tragende Säule der deutschen Wirtschaft
Es gibt eine Bevölkerungsgruppe, die sich gegen diesen Trend stemmt: Immer stärker beteiligen sich Menschen mit Migrationshintergrund am Gründungsgeschehen in Deutschland und sind als Selbständige und Unternehmer:innen aktiv. Studien zeigen, dass Unternehmer:innen und Selbständige mit Zuwanderungsgeschichte seit den 1990er Jahren in Deutschland in wachsendem Umfang – und heute wesentliche – Beiträge zur wirtschaftlichen Dynamik in allen Branchen, zum Innovationsgeschehen und zur Beschäftigungsdynamik leisten.
Obwohl die Fakten klar sind, bleibt die öffentliche Wahrnehmung dieses Phänomens oft alten Zuschreibungen verhaftet. Seit 2015 beschäftige ich mich im Rahmen meiner Arbeit im Wirtschaftsprogramm der Bertelsmann Stiftung mit dem Thema. Und immer wieder höre ich: „Das ist doch nebensächlich. Da geht es doch nur um die Dönerbude um die Ecke!“ Dieses Bild ist einfach und eingängig. Und für viele ist das Thema damit abgehakt: ein randständiges Phänomen, eine prekäre Art von Selbständigkeit, die ethnisch oder folkloristisch gefärbt ist – keiner Beachtung wert.
Es geht nicht um die Dönerbude um die Ecke
Dass dieses einfache Bild falsch ist, konnten wir seit 2015 mit mehreren empirischen Studien belegen. Unternehmer:innen mit Zuwanderungsgeschichte sind heute in Deutschland in allen Branchen aktiv, zunehmend auch in wissensintensiven. Und auch in der Öffentlichkeit ist dies angekommen – spätestens seit das Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin als führende Köpfe eines global erfolgreichen – deutschen – Biotechunternehmens ins Scheinwerferlicht getreten sind.
Aber reicht das? Können wir ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Phänomen, bei dem wir von knapp 900.000 Menschen mit mehr als 1,5 Millionen Beschäftigen sprechen, mit dem Verweis abhaken, dass es sich irgendwo zwischen Dönerbude und BioNtech abspielt? Ganz sicher nicht.
Ein differenzierterer Blick für ein facettenreiches Phänomen
Deswegen bin ich der Einladung einer Gruppe von Wissenschaftler:innen gefolgt, gemeinsam ein Diskussionspapier zu schreiben, das grundlegende Fragen angehen sollte: Wie steht es in Deutschland um die Wahrnehmung des Phänomens „migrantischen“ Unternehmer:inentums? Was kann Wissenschaft zu einer differenzierten Wahrnehmung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrags Migrant:innen beitragen? Wo kann Politik ansetzen, um Potenziale zielgenau zu heben?
Alexandra David und Judith Terstriep (beide IAT), Kristina Stoewe (IW Köln), Alexander Ruthemeier (Steinbeis Institute for Global Entrepreneurship & Innovation), Maria Elo (University of Southern Denmark) und ich haben daher in einem Diskussionspapier den aktuellen Forschungsstand zur Selbständigkeit von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zusammengefasst. In dem Papier schlagen wir vor, das öffentliche Bild und auch die wissenschaftliche Herangehensweise an das Phänomen zu aktualisieren.
Forschung und Politik müssen differenzieren
In zukünftiger Forschung aber auch beim Aufsetzen zielgerichteter Unterstützungsmaßnahmen sollte differenziert werden zwischen den konkreten Gruppen, um die es geht. Denn Rahmenbedingungen, Hindernisse oder Bedürfnisse sind beispielsweise für eine Hochschulabsolventin, die gezielt im Berliner Startup-Ökosystem gründen möchte, anders als für einen nach Deutschland geflüchteten Ingenieur, der sein Maschinenbauunternehmen hier fortführen will. Sowohl persönliche Merkmale des bzw. der Unternehmer:in als auch Charakteristika des Unternehmens sollten daher differenziert berücksichtigt werden. Beim Blick auf die Person sind das Zuwanderungsmotiv (freiwillig oder erzwungen) und die Zughörigkeit zur ersten oder zweiten Generation relevant. Auch die Ausstattung mit Ressourcen spielt eine entscheidende Rolle. Beim Blick auf das Unternehmen sollten Merkmale wie die Branchenzugehörigkeit und der Aktionsradius des Geschäftsmodells Beachtung finden.
Innovations- und Integrationskraft stärken
Wir fordern auch mehr Engagement von der Politik. Drei Aspekte sind dabei besonders wichtig: Erstens empfehlen wir, migrantischen Unternehmer:innen in Deutschland endlich den Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung zu geben, den sie aufgrund ihres heute schon immensen Beitrags haben sollten. Zweitens sollten Gründungsförderung und Beratungsinstrumente zielgruppenspezifischer zugeschnitten werden. So hat die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag zugesichert, den Zugang zu Gründungsförderung für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu vereinfachen. Drittens sollte das besondere Potenzial internationaler Studierender an deutschen Hochschulen gezielt gehoben werden. Diese spezifische Gruppe anzusprechen und diesen Menschen den Weg zu erfolgreichem Unternehmer:innentum hier in Deutschland zu öffnen, ist alle Mühe wert, wenn wir unsere Innovations- und Integrationskraft stärken wollen.