Family matters – Warum Geflüchtete in die Ukraine zurückkehren

Mit rund 2,1 Millionen Personen dürfte mittlerweile ein Drittel der seit Kriegsausbruch Geflüchteten nach jüngsten Angaben des UNHCR wieder in die Ukraine zurückgekehrt sein (vgl. Ukraine Situation Flash Update #15 (3 June 2022) – Ukraine | ReliefWeb). Das sind Schätzungen, die auf Angaben des ukrainischen Grenzschutzes beruhen. Im Fall von Kiew hatten Zweidrittel der 3,5 Millionen Bewohner:innen zwischenzeitlich die Stadt verlassen, die Einwohnerzahl sei jetzt nach Angaben der Stadtverwaltung wieder auf rund 2,5 Millionen Menschen angewachsen (vgl. Geflüchtet – und in die Ukraine zurückgekehrt: „An den Checkpoints war es beängstigend“ (tagesspiegel.de).

Allerdings ist das Fluchtgeschehen immer noch sehr fluide: So verlassen weiter Ukrainer:innen das Land, auch wenn andere wieder zurückkehren. Ungewiss ist, ob die Rückkehrer:innen bleiben, wenn sich die Sicherheitslage wieder verschlechtert. Es gibt seitens der IOM noch keine Unterstützung für die freiwillige Rückkehr, wenn auch die EU-Grenzschutzbehörde Frontex dafür bereits Flüge organisiert hat (vgl. Ukraine: „Freiwillige Rückkehr“ – Frontex plant Charterflüge für Heimkehrer – WELT).

Familie gibt den Ausschlag für Rückkehr

Rückkehrentscheidungen sind individuell und komplex, so die Erkenntnis aus diversen Fallstudien der Migrationsforschung (SoR-11-Rückkehr-und-Reintegration-von-Flüchtlingen.pdf (flucht-forschung-transfer.de)). Generell dürfte der Vergleich der Bedingungen und Chancen im Herkunfts- und Aufnahmeland für die individuelle Entscheidung ausschlaggebend sein. Bei den „Pull-Faktoren“, also den Gründen, die Geflüchtete wieder in ihr Heimatland ziehen, spielen die Familiensituation und soziale Netzwerke eine zentrale Rolle. Der Wunsch nach Wiedervereinigung mit den Familienangehörigen ist ein maßgeblicher Einflussfaktor für Rückkehr. Das dürfte auch das Hauptmotiv für die Rückkehr in die Ukraine sein, denn die meisten Geflüchteten sind Frauen und Kinder, die von ihren männlichen Verwandten getrennt wurden.

Der Wunsch nach Wiedervereinigung mit den Familienangehörigen sowie mangelnde Arbeitsmarktperspektiven sind maßgebliche Einflussfaktoren für die Rückkehr.

So sind im Aufnahmeland Deutschland nach einer Befragung des Bundesinnenministeriums rund 84 Prozent der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Frauen, 58 Prozent davon sind mit ihren Kindern gekommen (vgl. Ukrainische Flüchtlinge | Flucht & Asyl | Zahlen und Fakten | MEDIENDIENST INTEGRATION (mediendienst-integration.de)). Männern zwischen 18 und 60 Jahren war die Flucht aus der Ukraine wegen der Mobilmachung unmöglich. Weitere Motive für eine Rückkehr sind mangelnde Arbeitsmarktperspektiven in den Aufnahmeländern sowie der Wunsch, beim Wiederaufbau des Heimatlandes zu helfen. Was die Arbeitsmarktintegration beispielsweise in Deutschland angeht, so gibt es zwar keine rechtlichen Hindernisse. Auch spricht der relativ hohe Bildungsstand der Ukrainer:innen, von denen rund die Hälfte einen Hochschulabschluss haben und in akademischen, technischen oder medizinischen Berufen arbeiteten, für gute Chancen am Arbeitsmarkt. Allerdings erfordern Jobs im akademischen Dienstleistungssektor ein hohes Sprachniveau in Deutsch, so dass zunächst monatelange Sprachkurse erforderlich sind, um entsprechend der beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen am Arbeitsmarkt teilzuhaben.

Ungewisse Perspektiven

Wie sich die Fluchtbewegungen entwickeln, ist abhängig vom weiteren Kriegsverlauf. Das Kampfgeschehen konzentriert sich zwar auf den Osten der Ukraine, aber Russland greift auch weiter das Zentrum und den Westen mit Raketen an, um die Sicherheitslage zu destabilisieren. Das Fluchtgeschehen wird voraussichtlich stärker von andauernder transnationaler Mobilität im Sinne von mehrfachen Aus- und Einreisen geprägt sein, so die Einschätzung von Migrationsforscher Olaf Kleist (vgl. „Das Asylsystem in Europa steht auf der Kippe“ | deutschlandfunkkultur.de).

Mangelnde Planungssicherheit erschwert die Integration der Geflüchteten: bei Integrationskursen, Schulen, Kitas und auf dem Arbeitsmarkt

Für die Integration der Geflüchteten in Deutschland ist diese Ungewissheit und Fluidität eine Herausforderung. So setzen beispielsweise staatlich geförderte Integrationskurse bestimmte Teilnehmendenzahlen voraus und können von den anbietenden Trägerorganisationen nicht kostendeckend fortgesetzt werden, wenn die Zahlen im Kursverlauf sinken. Auch erschwert transnationale Mobilität die Planungssicherheit für Kitas und Schulen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser rechnet damit, dass eine Mehrheit der Ukrainer:innen zurückkehren werden. Allerdings hänge das auch davon ab, ob sie die Chance sehen, mit ihrer Qualifikation auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen (Geflüchtete aus der Ukraine: Faeser rechnet bei Mehrheit der Geflüchteten mit Rückkehr | ZEIT ONLINE). Integrationsmaßnahmen bleiben also weiter wichtig – nicht nur im Interesse der Geflüchteten.