Fluchtkrisen 2015 und 2022: Ähnlich und doch so anders
Flucht aus der Ukraine hat ganz andere Dimension als die Fluchtkrise 2015
Auf den ersten Blick erinnert die aktuelle humanitäre Katastrophe in der Ukraine an die Kriegsgeflüchteten aus Syrien und anderen arabischen Ländern. Doch in der Dimension, dem Verhalten der Staaten in Osteuropa und auch in der Situation Deutschlands offenbaren sich fundamentale Unterschiede.
Die Bilder scheinen sich zu gleichen: Tausende Geflüchtete kommen im März 2022 am Berliner Hauptbahnhof an und sie werden freundlich empfangen – so wie damals im September 2015 am Münchener Hauptbahnhof. Auf den ersten „deutschen Blick“ wiederholt sich die Geschichte, aber es gibt gravierende Unterschiede.
Die Flucht aus der Ukraine hat ganz andere Dimensionen als die Fluchtkrise 2015. Was wir momentan in Europa erleben, ist bereits jetzt die größte Fluchtbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges: Nach einer Woche hatte eine Million Menschen die Ukraine verlassen, nach zwei Wochen sind es mehr als zwei Millionen. Mit vier Millionen Geflüchteten rechnet der UNHCR, wobei UN-Flüchtlingskommissar Grandi bereits angedeutet hat, dass dieses Szenario eher optimistisch ist. Expert:innen, die auf die Erfahrungen des russischen Krieges in Tschetschenien verweisen, halten Vertreibungen von einem Viertel der Bevölkerung für möglich: das wären im Fall der Ukraine zehn Millionen Menschen. Natürlich sind solche Schätzungen unsicher, aber nicht unwahrscheinlich, wenn der Krieg in den nächsten Wochen und Monaten mit ungeminderter Brutalität gegen die Zivilbevölkerung weitergeht.
EU-Staaten halten die Grenze für Geflüchtete aus der Ukraine offen
Der größte Unterschied zu 2015 ist aber die Reaktion der EU-Staaten. Alle halten ihre Grenzen für die Geflüchteten offen, weil sie spüren, dass es hier nicht nur um die Ukraine, sondern um die Freiheit in Europa geht. Polen, wo vor dem Krieg 1,3 Millionen Ukrainer:innen lebten und arbeiteten, überrascht die Welt mit einer enormen Hilfsbereitschaft und hat bereits mehr als eine Million Geflüchtete aufgenommen. Auch die anderen migrationsskeptischen Staaten Osteuropas, wie Ungarn oder die Slowakei, haben ihre Haltung radikal geändert. Das hat eine Revolution auf EU-Ebene ermöglicht: Alle Staaten haben sich auf eine gemeinsame Asylpolitik geeinigt, die erstmals die – aus den Erfahrungen des Jugoslawienkrieges stammende – Richtlinie 2001/55/EG über „Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustromes von Vertriebenen“ bereits eine Woche nach Kriegsausbruch in Kraft gesetzt hat. Damit werden die flüchtenden Ukrainer:innen in allen EU-Staaten ohne Asylverfahren unbürokratisch aufgenommen und erhalten einen bis zu dreijährigen Schutzstatus. Die Humanität im Umgang mit Geflüchteten hat sich in Europa endlich durchgesetzt.
Zivilgesellschaft ist treibende Kraft einer Willkommenskultur für Geflüchtete
Auch die Situation in Deutschland ist eine andere, obwohl Manches an 2015 erinnert. So ist wieder die Zivilgesellschaft die treibende Kraft einer Willkommenskultur für Geflüchtete: 90 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für ihre Aufnahme aus, 25 Prozent wollen sogar ihre Wohnungen teilen. Wieder stehen Bund, Länder und Kommunen vor großen Herausforderungen und sind nicht ausreichend vorbereitet. So ist in Berlin das Aufnahmesystem am zehnten Tag nach dem Kriegsausbruch kurzfristig zusammengebrochen. Allerdings ist die Anzahl der Geflüchteten, die den Weg nach Deutschland finden, wegen der Aufnahmebereitschaft der Nachbarstaaten der Ukraine noch wesentlich geringer als 2015. Außerdem können alle Kommunen auf die damaligen Erfahrungen und Netzwerke zurückgreifen. Es gibt jetzt auch mehr Flexibilität bei der Aufnahme, weil sich aufgrund des Schutzstatus der Ukrainer:innen private Akteure stärker bei der Unterbringung und Begleitung einbringen können. Unklar ist zur Zeit, wie eine faire Verteilung der Geflüchteten im Bundesgebiet erreicht werden kann. Denn die Ukrainer:innen können überall einreisen und sich frei im Bundesgebiet bewegen. Sie dürfte es dorthin ziehen, wo Freunde oder Verwandte leben und größere ukrainische Gemeinschaften angesiedelt sind, vor allem in Berlin, München, Hannover, Nürnberg und Hamburg. In diesen Metropolen lebt der Großteil der 145.000 Personen umfassenden Vorkriegsdiaspora.
Deutschland und Europa werden die humanitäre Katastrophe infolge des Krieges in der Ukraine bewältigen
Auch wenn der Schutzstatus großzügige und kurzfristige Hilfsmaßnahmen ermöglicht, so gibt es Hindernisse für die zügige Integration in Bildung und Arbeit. Die Aufnahme der geflüchteten Kinder in Kitas und Schulen trifft auf Einrichtungen und Mitarbeiter:innen, die von der Pandemie erschöpft und vom Erzieher:innen- und Lehrerkräftemangel geschwächt sind. Die Voraussetzungen für die Arbeitsmarktintegration scheinen aufgrund des Bildungsstandes der Ukrainer:innen günstig, aber ohne Deutschkenntnisse braucht es Zeit. Gleichwohl besteht Anlass zu Zuversicht: Die Fluchtkrise 2015 hat Deutschland insgesamt gut bewältigt, weil Humanität und Solidarität stärker wogen als Konflikte und Ablehnung. Deutschland und Europa werden auch die aktuelle humanitäre Katastrophe infolge des Krieges in der Ukraine mit vereinten Kräften bewältigen!