Heimatbilder: Wie Kunst Menschen zusammenbringt
Wenn du die Augen schließt und an Heimat denkst: Welches Bild kommt dir in den Kopf?
Diese Frage stellte das Künstlerduo „Empfangshalle“ Anfang der 2000er Jahre Müllmännern in München. Wie das Projekt „Woher Kollege – Wohin Kollege“ von Corbinian Böhm und Michael Gruber die Stadt veränderte, und was das alles mit dem Dialog der Kulturen zu tun hat, lesen Sie hier.
Viele Menschen in Deutschland fühlen sich aktuell durch die kulturelle Vielfalt in ihrer eigenen Identität verunsichert. Kaum etwas prägt unsere gesellschaftlichen Debatten derzeit mehr als diese Vielfalt und die Frage nach dem Umgang mit ihr. Viele Menschen fordern, dass die Politik hierfür Lösungen schaffen muss. Dabei vergessen sie häufig, dass politische Ansätze allein nicht ausreichen. Einen gelingenden Umgang mit der kulturellen Vielfalt zu finden, ist eine Aufgabe, die die Gesellschaft als Ganze betrifft.
Künstler leisten wichtige Beiträge für den Dialog der Kulturen und das Zusammenleben in Vielfalt. Daran erinnert uns der heutige Welttag der kulturellen Vielfalt, den die Vereinten Nationen ins Leben gerufen haben. Wie es künstlerischen Projekten gelingen kann, Menschen unterschiedlichster Hintergründe zusammenzubringen und so das Zusammenleben in unserer vielfältigen Gesellschaft zu gestalten, zeigt das Projekt „Woher Kollege – Wohin Kollege“.
Kunst mitten in der Gesellschaft
Corbinian Böhm und Michael Gruber nahmen Anfang der 2000er Jahre an einem Kunstwettbewerb in München teil und entwickelten dort die Idee für ein Projekt, das Kunst mitten in der Gesellschaft möglich machen sollte. Als Rohmaterial für ihre Arbeit wählten sie den öffentlichen Raum: All das, was uns in unserem Alltag ganz unmittelbar umgibt.
Bei ihrer Recherche stießen Gruber und Böhm auf etwas, das uns ständig im Alltag begleitet. Das wir aber kaum noch registrieren, weil es für uns so selbstverständlich geworden ist: Die Müllabfuhr. Und vor allem die Müllmänner, die unsere Abfälle entsorgen – jede Woche aufs Neue. Berührungspunkte mit den Menschen, die dieser Arbeit nachgehen, gibt es jedoch kaum.
Das Künstlerduo besuchte deshalb den Abfallwirtschaftsbetrieb in München. Ihnen fiel sofort die Vielfalt der Länder auf, aus denen die Angestellten stammten. Daraus entwickelte sich eine Idee, die ein riesiges Projekt nach sich ziehen sollte.
Heimat – ein Ort und ein Bild
28 Müllmänner aus München sollten nacheinander und innerhalb eines Jahres mit einem zum Wohnmobil umgebauten Müllwagen in ihr Herkunftsland reisen und dort ein Foto von dem Ort machen, der für sie Heimat darstellt. Einzige Bedingung: Das Fahrzeug sollte auf dem Bild zu sehen sein.
Die Männer machten sich auf die Reise in ihre Herkunftsländer, um von dort ihr persönliches Foto mitzubringen. Sie fuhren nach Ghana, Italien, Serbien, in die Türkei, die Ukraine und nach Kasachstan.
Nachdem die Männer von ihrer Reise zurückgekehrt waren, wurden die Bilder auf wetterfestem Material in Übergröße an den regulären Müllwagen befestigt. Die Müllmänner, die die Fotos aufgenommen hatten, fuhren dann mit ihrer eigenen Aufnahme drei Jahre lang täglich durch die Straßen von München.
Wenn das Kunstwerk zum Publikum kommt
Die Fotos kamen auf den Müllwagen ganz alleine zum Publikum – und erreichten die Menschen so in ihrem Alltag. Die Bilder trafen die Menschen unvorbereitet. Sie nahmen wahr, was sonst keinen Platz in ihrem Alltag hatte: Dass jeder der Männer eine eigene Kultur mit nach Deutschland gebracht hat. Dass jeder von ihnen einen Ort hat, mit dem er Heimat verbindet. Viele der Menschen sprachen die Müllmänner an und hakten nach. Sie fragten sie nach ihrer persönlichen Geschichte. Sie kamen endlich ins Gespräch miteinander.
Aber nicht nur bei den Menschen in der Stadt, die die Bilder sahen, wenn die Müllwagen vorfuhren, sondern auch bei den Müllmännern selbst löste das Projekt etwas aus: Als die Männer gebeten wurden, ihren Heimatbegriff in ein Bild umzusetzen, fingen sie an, sich nicht nur mit ihrer eigenen Geschichte zu beschäftigen, sondern auch mit der ihrer Kollegen. Sie fingen an, sich für die Kultur und die Herkunft des anderen zu interessieren, nachzufragen, sich auszutauschen. Sie begannen, sich zu erzählen, woher sie stammten, aber auch, wohin sie in ihrem Leben wollten, was ihre Ziele waren und ihre Träume.
Kunst, Vielfalt und Zusammenhalt
Künstlerische Ausdrucksformen sind wichtig, um gesellschaftliche Veränderungen zu verstehen oder über sie nachzudenken. Und Projekte, die Themen aufgreifen, die uns als Gesellschaft bewegen, bringen uns nicht nur weiter, sondern auch näher zusammen.
Musik, Theater und Kunst können unser alltägliches Zusammenleben prägen und es begleiten, indem uns eine neue Sicht auf die Dinge gezeigt wird. Sie können uns aufwecken und anstoßen, genauer hinzusehen. Sie können unser Interesse an Dingen wecken, die wir noch nicht beachtet haben oder denen wir skeptisch gegenüberstehen. Und sie können uns mit Menschen zusammenbringen, mit denen wir uns sonst nicht austauschen würden.
Die kulturelle Vielfalt in Deutschland ist groß. Viele der Menschen, die eine andere Kultur oder andere Traditionen mit sich tragen, sind schon ein Teil von uns und unserer Gesellschaft. Andere möchten noch ein Teil davon werden. Alleine wird ihnen das nicht gelingen. Das Zusammenleben erfordert Offenheit und Anstrengungen auf allen Seiten.
Öffnen wir also unsere Augen und seien wir interessiert an den Geschichten der Menschen, die mit uns in Deutschland leben.
Schauen wir doch mal genauer hin, bevor wir unsere Mitmenschen unbeachtet lassen – aus Angst oder Unsicherheit.
Und tun wir etwas dafür, dass uns in Zukunft nicht erst ein künstlerisches Projekt dazu anstoßen muss, unsere Mitmenschen wahrzunehmen und uns mit ihnen auszutauschen.
Aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung
Wie künstlerische Beiträge zum Zusammenleben in Vielfalt aussehen können, lesen Sie in der neuen Studie der Bertelsmann Stiftung. Dort erfahren Sie auch, welche spannenden und berührenden Projekte Deutschland aktuell bereichern.
Die komplette Studie „Kunst in der Einwanderungsgesellschaft“ zum kostenlosen Download finden Sie hier.