„Trying Times“: Wie wir Corona rund um den Globus erleben – und welche Herausforderungen wir jetzt weltweit angehen müssen

Früh am Morgen in Washington D.C., spät am Abend in Peking – und irgendwo dazwischen in Israel, Ghana, Polen, Moldawien, Italien, Österreich, Deutschland und den Niederlanden: In einem digitalen Workshop zur Corona-Krise kamen im Rahmen des Projekts „Trying Times“ zwölf Menschen aus zehn Ländern zu einem internationalen Dialog zusammen. Sie berichteten über die aktuelle Lage in ihrer Gesellschaft und nahmen gemeinsam die Zukunft in den Blick: Was erwartet uns nach Corona? Welche Herausforderungen zeichnen sich ab? Die Workshop-Teilnehmer waren sich einig: Wir müssen jetzt schon die Weichen stellen für eine Post-Corona-Gesellschaft, die die freiheitliche Demokratie bewahrt, wirtschaftliche Wiederbelebung mit Nachhaltigkeit verbindet und der beschleunigten Digitalisierung gewachsen ist.

Das Leben im Corona-Lockdown rund um den Globus

„Social Distancing“ gehört immer noch zu unserem Alltag. Die Bewegungsfreiheit ist nach wie vor eingeschränkt, an Reisen ins Ausland ist momentan noch nicht wieder zu denken – viele Grenzen bleiben vorerst dicht. Dank Digitalisierung schrumpft unser Horizont trotzdem nicht auf unsere eigenen vier Wände: Mittels Videokonferenzen holen wir uns die Welt nach Hause ins heimische Arbeitszimmer. So konnte ich trotz Home Office eine Reise um den Globus machen und Einblicke gewinnen, wie Mitarbeiter von NGOs, Wissenschaftlerinnen, Entrepreneure, Journalistinnen und Kulturschaffende die Corona-Krise in ihrer jeweiligen Gesellschaft erleben.

Der Austausch förderte Gemeinsamkeiten zutage, wie die allgemeine „Lockdown“-Situation und die damit verbundenen gesellschaftlichen und persönlichen Einschränkungen. Insbesondere Familie und Freunde lange Zeit nicht treffen und zum Beispiel auch Feste wie Geburtstage nicht gemeinsam verbringen zu können, empfanden viele als belastend. Zugleich konnten einige der durch Corona erzwungenen Muße auch etwas abgewinnen, wie wieder selbst mehr zu Hause zu kochen oder den lang gehegten Vorsatz, öfter zu joggen, endlich in die Tat umzusetzen. Allerdings galt letzteres natürlich nicht für Länder mit strikteren Ausgangsbeschränkungen wie zeitweise in Italien oder auch Israel.

 

Alltag in Zeiten von Corona: Zwischen Fiebermessen und Wertedebatten

Neben den geteilten oder ähnlichen Erfahrungen wurden aber auch Unterschiede und Besonderheiten thematisiert. So befindet sich China bereits an einem anderen Punkt in der Pandemie-Entwicklung als weiter westlich gelegene Länder. Während in Europa nun gerade vorsichtige erste Schritte bei der Lockerung der Corona-Maßnahmen unternommen werden, ist das öffentliche Leben in China schon seit einiger Zeit wiederbelebt – aber zum neuen Alltag, etwa in Peking, gehört tägliches mehrfaches Fiebermessen an verschiedenen Kontrollpunkten.

In den USA zeigt sich in der jetzigen Krise ganz besonders deutlich, dass Investitionen in basale gesundheitliche Infrastruktur und soziale Sicherungssysteme lange versäumt wurden – wobei in der amerikanischen Gesellschaft allerdings ein ganz besonders heftiger „narrativer Krieg“ darüber tobt, wie die Lage rund um das Virus angemessen zu interpretieren sei.  Es ist nicht unbedingt abzusehen, dass Donald Trump nun große Teile seiner Basis verliert. Für andere Teile der Bevölkerung wiederum fühlt es sich an, als lebe man in einem „failed state“. Aus ihrer Sicht fehlt eine kohärente, gut koordinierte Strategie der amerikanischen Bundesregierung. Dementsprechend gibt es eine gewisse Entwicklung dahingehend, die Dinge auf lokaler Ebene, etwa in einzelnen Großstädten, noch stärker selbst in die Hand zu nehmen.

Der besonders heftigen Polarisierung in den USA steht eine relative Einigkeit der Bevölkerungen und Zufriedenheit mit dem staatlichen Krisenmanagement in Ländern wie Deutschland und Österreich gegenüber – ebenso in Italien, wo die Krise dem Ministerpräsidenten Giuseppe Conte sogar eher überraschend Auftrieb bescherte. Inzwischen werden jedoch auch in Deutschland die kritischen Stimmen lauter. Allerdings kommen die schrillsten Töne in dieser Hinsicht aus einem Lager, das sich bislang vor allem durch eine populistische Vereinnahmung von Demokratie und Grundrechten in Verbindung mit kruden Verschwörungstheorien auszeichnet. Gleichwohl steht das Land nach einer ersten Phase der Notfallmaßnahmen nun vor einer ernsthaften ethischen Debatte über die Gewichtung von zentralen Werten wie dem Schutz des Lebens und der Gesundheit gegenüber der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz sowie damit auch verbundenen Fragen rund um Kinderbetreuung und schulische Bildung.

Ghana gehört zu den Ländern, die eher später von der Pandemie getroffen wurden und daher Gelegenheit hatten, von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen und rechtzeitig Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus zu ergreifen. Diese Maßnahmen, wie etwa die sofortige Quarantäne aller, die in das Land einreisten, und auch landesweite Ausgangsbeschränkungen, wurden von der Bevölkerung weithin als „logische“ Reaktionen bewertet und akzeptiert. Proteste und Rebellionen gegen die Einschränkungen wie in manchen Ländern des globalen Nordens werden hier eher mit Befremden wahrgenommen.

In Moldawien wiederum stellt sich die Herausforderung, dass viele Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in der Krise zurückgekehrt sind, die das Land lange verlassen hatten, um im Ausland Arbeit zu finden und ihren Familien Geld nach Hause zu schicken. Diese Geldsendungen fehlen nun, und zurück in der Heimat stehen die Rückkehrer wieder ohne Job da.

 

Politik und Wirtschaft in der Post-Corona-Gesellschaft: Was erwartet uns?

Nach dem Austausch über die Lebensrealität unter Corona in den unterschiedlichen Ländern wurde im zweiten Teil des Workshops diskutiert, welche zentralen Zukunftsherausforderungen sich in der Krise bereits abzeichnen und wo wir jetzt schon ansetzen müssen, um die Weichen für die Zeit nach Corona zu stellen.

 

Demokratie und Freiheit gegen populistische Vereinnahmungen verteidigen

Ein Thema war die zunächst recht ungewöhnliche Stille seitens rechtspopulistischer Bewegungen, etwa in Deutschland und zumindest zeitweise auch in Italien. Hier war der Tenor der Diskussion, dass es sich dabei wohl nur um ein vorübergehendes „Abtauchen“ handelt – man muss damit rechnen, dass sich rechte Bewegungen strategisch und taktisch für die Post-Corona-Phase in Stellung bringen. Die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien rund um das Pandemie-Geschehen sowie das Aufspringen von Rechtsextremisten auf den Zug der so genannten „Hygiene-Demos“ kann in diesem Zusammenhang auch als ein Warnzeichen gewertet werden. Demokratie und Grundrechte gegen eine Verkürzung und Vereinnahmung durch rechts-, aber auch linkspopulistische Akteure zu verteidigen, erweist sich angesichts der hohen Verunsicherung und der Flut von obskuren Videos und Artikeln in den sozialen Medien als eine der dringendsten Aufgaben.

 

Die Wiederbelebung der Wirtschaft mit einer Wende zur Nachhaltigkeit verbinden

In der Corona-Krise ist der Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit noch einmal ganz besonders deutlich hervorgetreten. Aktuell reisen wir nicht, was dem Klima guttut – aber gleich mehrere Branchen an den Rand des Niedergangs treibt: Fluggesellschaften, aber auch Busunternehmen oder Car-Sharing-Firmen, Hotellerie und Gaststätten sowie große Teile der Eventbranche fahren massive Verluste ein bis hin zur Insolvenz vieler Betriebe. Niemand will, dass die Wirtschaft den Bach runter geht. Deswegen geht in China mit dem erneuten Hochfahren des öffentlichen Lebens bereits eine gezielte Stimulation von Konsum einher, und auch die USA standen diesbezüglich schon früh in den Startlöchern. In Europa geht man mit der Erlaubnis zur Wiedereröffnung von Gewerben in vielen Branchen nun auch die ersten Schritte in Richtung Wiederbelebung der Wirtschaft.

Gleichzeitig war auch vor Corona vielen schon klar, dass die Steigerungslogik unserer Art zu Wirtschaften und der damit vielfach einhergehende „Konsumwahn“ Gesellschaften weltweit auf Dauer schadet. Doch wieviel wird übrig bleiben von der nicht nur in Deutschland gehegten Hoffnung, dass wir in unseren Gemeinwesen beziehungsweise unseren global vernetzten Wirtschaftswegen durch die Erfahrung der „Atempause“ im Corona-Stillstand einen Sinnes- und Praxiswandel hin zu mehr Nachhaltigkeit vollziehen? Die Wiederbelebung der Wirtschaft endlich mit einer effektiven Schonung von Ressourcen zu verbinden, wird ebenfalls zu den Kernherausforderungen der Post-Corona-Gesellschaft gehören.

 

Bildung und Politik für das digitale Zeitalter fit machen

Und schließlich hat uns die Krise die enormen Zukunftsherausforderungen in Sachen Digitalisierung in vielen Ländern noch einmal stärker bewusst gemacht: In Moldawien fehlte es insbesondere für eine digitale Beschulung zu Hause an allen Ecken und Enden an den technischen Möglichkeiten. Und auch in Deutschland waren viele Schulen nicht optimal auf digitalen Unterricht vorbereitet. In Israel und Polen brachte die Corona-Krise die Abläufe rund um die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durcheinander. Diese Erfahrungen zeigen, dass Bildung und Politik für das digitale Zeitalter vielfach noch nicht hinreichend gewappnet sind. Institutionen und Prozesse im Bildungsbereich und im Politikbetrieb müssen hier dringend aufholen.

Die Diskussion über Ländergrenzen hinweg machte deutlich: Wir leben in herausfordernden Zeiten – und sind gefordert, neue Wege zu gehen. Die (Post-)Corona-Zeiten sind also nicht nur „trying times“, sondern auch „times for trying“!