Graffiti von einem Trabbi, der durch die Mauer bricht

30 Jahre deutsche Einheit: Was uns verbindet und was uns trennt.

Morgen ist der 3. Oktober und so langsam haben wir Deutschen uns an den Feiertag zur deutschen Einheit gewöhnt – aber gilt das auch für die Einheit selbst? Vor dreißig Jahren sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Festakt zum Tag der deutschen Einheit in Berlin, es gelte die Einheit „mit Inhalt und Leben zu erfüllen.“ Die Politik allein, da war er sich sicher, könne nur einen kleinen Beitrag zur deutschen Einheit leisten. Worauf es ankäme, wären die Menschen in beiden Landesteilen: „Zu vollziehen aber ist die Einheit nur durch das souveräne Volk, durch die Köpfe und Herzen der Menschen selbst.“ Von Weizsäcker war sich damals sicher, dass diese Einheit in den Köpfen und Herzen aber kein einfaches Unterfangen würde. „Jedermann spürt, wie viel da noch zu tun ist. Es wäre weder aufrichtig noch hilfreich, wollten wir in dieser Stunde verschweigen, wieviel uns noch voneinander trennt.“

30 Jahre danach: Ost und West immer noch uneins über die Deutsche Einheit

Drei Jahrzehnte sind seitdem vergangen und immer noch treibt uns Deutsche die Frage um, was die Menschen in Ost und West verbindet und was sie trennt. Anlässlich des 30 Jährigen Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung haben wir eine Studie durchgeführt, die dem Trennenden, vor allem aber dem Verbindenden, in der deutschen Gesellschaft nachspüren sollte. Im Kern ging es uns darum, die unterschiedlichen Sichtweisen der Menschen auf die Gesellschaft im vereinten Deutschland offenzulegen. Dafür haben wir lange Tiefeninterviews mit Menschen aus Ost- und Westdeutschland geführt, Gruppendiskussionen in der ganzen Republik veranstaltet und abschließend über 1.500 Personen mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Wie wir dabei genau vorgegangen sind haben meine beiden Mitautoren Jana Faus und Matthias Hartl bereits in einem anderen Blog-Beitrag ausführlich beschrieben. Heute möchte ich stattdessen drei zentrale Ergebnisse hervorheben, die mich persönlich überrascht und mein Denken über die deutsche Einheit verändert haben.

Es gibt nicht nur eine Geschichte der deutschen Einheit

Eines hat sich in unserer Forschung in aller Deutlichkeit gezeigt: Gefragt danach, was sie mit der deutschen Wiedervereinigung verbinden, haben unsere Interviewpartner im Westen fast durchweg eine Geschichte erzählt, die vom wirtschaftlichen Niedergang der DDR handelt. In dieser haben Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher in den USA, Europa und der Sowjetunion für die Einheit geworben und am Ende hat der Westen den „Aufbau Ost“ bezahlt. Im Osten wird eine andere Geschichte erzählt: Sie beginnt mit der Unzufriedenheit mit den politischen Zuständen in der DDR, mit der Bürgerrechtsbewegung und den Montagsdemonstrationen. Es ist die Geschichte der friedlichen Revolution, bei der, ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde, eine Diktatur zu Fall gekommen ist. Außerdem berichteten unsere Interviewpartner, insbesondere die Älteren, im Osten auch von ihren persönlichen Erlebnissen und Schicksalsschlägen, wie Verlust des Arbeitsplatzes, Trennungen oder Umzügen. Für die Befragten im Westen ist die Wiedervereinigung meist eher ein deutlich abstrakteres historisches Ereignis, zu dem die Menschen keine persönliche Beziehung haben. Ihr Leben nach der Wiedervereinigung unterscheidet sich in der Regel kaum von dem davor. Beide Geschichten sind wahr. Beide sind wichtig. Aber noch spielt in der gesamtdeutschen öffentlichen Diskussion die westdeutsche Perspektive die ungleich größere Rolle.

Es mangelt immer noch an gegenseitiger Anerkennung

Die beiden unterschiedlichen Perspektiven auf die Wiedervereinigung, die in Deutschland parallel existieren, stehen nicht grundsätzlich im Widerspruch. Wie gesagt, sie sind beide richtig. Unsere Studie zeigt aber deutlich, dass die wechselseitige Anerkennung für die Leistung der jeweils anderen auch im Jahr 2020 immer noch in vielen Fällen fehlt. 71 Prozent der Befragten im Osten sind z.B. der Auffassung, dass die Ostdeutschen mehr Anerkennung für die friedliche Wende verdient hätten. Unter den Älteren (ab 55 Jahre) sind es sogar 85 Prozent, die dies meinen. Im Westen sagen dies gerade mal 48 Prozent. Und umgekehrt sind 64 Prozent der älteren Westdeutschen der Meinung, Westdeutschland verdiene mehr Anerkennung dafür, die Wiedervereinigung finanziert zu haben. Nur jeder vierte Befragte in Ostdeutschland teilt diese Einschätzung. Statt des Gefühls anerkannt zu sein, empfinden sich mehr als die Hälfte der Menschen im Osten als Bürger zweiter Klasse und vier von fünf ostdeutschen Befragten haben den Eindruck, nach der Wende unfair behandelt worden zu sein. Ein weiterer Grund für die mangelnde Anerkennung mag auch darin liegen, dass nur wenige Dinge aus der ehemaligen DDR im wiedervereinigten Deutschland Bestand hatten. 84 Prozent der ostdeutschen Befragten stimmen der Aussage zu: „Manche Dinge haben in der DDR besser funktioniert und hätten im vereinten Deutschland übernommen werden sollen.“

Die Bedeutung von Teilung und Wiedervereinigung nimmt ab, bleibt aber spürbar

Bei all den Unterschieden, dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir bereits eine große Strecke auf dem Weg zur Vollendung der Einheit geschafft haben! Im Zeitverlauf und im Wechsel der Generationen nimmt die Bedeutung der Teilung immer mehr ab. In ihren Einstellungen ähneln sich die jüngeren West- und Ostdeutschen spürbar an. Auch die Bewertung der Wiedervereinigung hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Positiven verändert. Eine aktuelle Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt dies anhand von ALLBUS-Daten: Die Auffassung, die Wiedervereinigung sei ein positives Ereignis und habe mehr Vor- als Nachteile gebracht, hat sich immer weiter im Land verbreitet und wird heute von einer Mehrheit geteilt. Es sind vor allem ältere Ostdeutsche, bei denen noch heute die Schicksalsschläge der Wendezeit nachwirken. Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung schmerzt manchen Narbe noch, aber Ost-West stellt nicht (mehr) die dominante Trennungslinie in der deutschen Gesellschaft dar. Mit der Zeit werden die 40 Jahre der Teilung und die Nachwendezeit zwar nicht verschwinden, aber in ihrer persönlichen Relevanz für die Menschen verblassen. „Wie gut uns die Einheit menschlich gelingt,“ schloss Richard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 seine Rede, „das entscheiden kein Vertrag der Regierungen, keine Verfassung und keine Beschlüsse des Gesetzgebers. Das richtet sich nach dem Verhalten eines jeden von uns, nach unserer eigenen Offenheit und Zuwendung untereinander. …Ich bin gewiss, dass es uns gelingt, alte und neue Gräben zu überwinden. Wir können den gewachsenen Verfassungspatriotismus der einen mit der erlebten menschlichen Solidarität der anderen Seite zu einem kräftigen Ganzen zusammenfügen.“

 Der Film zur Studie

Noch ein Hinweis: Unsere Studie wurde von einem Filmteam begleitet. Wer sich also für die Ergebnisse interessiert, der kann sich auch in der 3Sat-Dokumentation „Wir 80 Millionen“ ein Bild vom Zustand der deutschen Gesellschaft im 30. Jahr der Einheit machen.