Die großen und die kleinen Kirchen?

Wo sich große Lücken in den Kirchenbänken der katholischen und evangelischen Kirche auftun, wird in den Freikirchen der ein oder andere zusätzliche Stuhl herangerückt. Vergleicht man die führenden Parameter der beiden großen Kirchen mit denen der Freikirchen, tut sich zunächst ein starker Kontrast auf, den es nachfolgend zu prüfen gilt. Ein kurzer Forschungsabriss.

Die aktuelle Lage der beiden Großkirchen

Die erste Veröffentlichung des Religionsmonitors 2023 erschien gestern pünktlich zur Weihnachtszeit 2022 mit einer Sneak Preview und einem Blick auf die aktuelle Lage und Entwicklung der Religiosität im Allgemeinen und im Speziellen die der christlichen Kirchen in Deutschland. Und wieder einmal bestätigt sich: Die beiden Großkirchen schrumpfen – die katholische Kirche etwas mehr als die evangelische Kirche, aber der Trend ist für beide klar und deutlich. Die Säkularisierung und Individualisierung des Glaubens und der Religiosität schreiten voran.

Im Jahre 2022 besuchten 17 Prozent der Kirchenmitglieder regelmäßig, d.h. mindestens einmal pro Monat einen Gottesdienst – das zentrale Angebot der christlichen Kirchen, das Herzstück, wenn man so will. Das heißt 83 Prozent der Kirchenmitglieder erhalten regelmäßige Updates per Post, dürfen den Kirchenvorstand wählen oder werden an ihre Mitgliedschaft regelmäßig durch ihre Gehaltsabrechnung erinnert, tauchen aber allenfalls zu hohen Feiertagen, wenn überhaupt im Gottesdienst auf. Somit bleibt vielen von dem, was ihnen die Kirchen zur Verfügung stellen ungenutzt. Sie zahlen regelmäßig Kirchensteuer, ohne eine gleichwertige Leistung in Anspruch zu nehmen – nämlich in Form der institutionellen Glaubensausübung. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer eigentlich das Wesen der Kirche ausmacht – wer sich mit Ideen einbringt, Entscheidungen trifft, einen Vorstand wählt – bei Letzterem liegt die Wahlbeteiligung mitunter bei unter 10 %. Haben Slogans im Sinne von „Wir alle sind die Kirche“ einen deskriptiv-realistischen Kern oder sind sie rein idealtypisch zu verstehen? Fragen über Fragen, denen sich die beiden Großkirchen stellen müssen und zwar mit immer schneller wachsender Dringlichkeit.

Gilt der Abwärtstrend für das gesamte Christentum in Deutschland?

An dieser Stelle kann man sich einen Kameraschwenk vorstellen. In Deutschland sind neben den beiden Großkirchen etliche weitere Formen christlicher Religiosität etabliert, deren Ursprünge teilweise bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Was sich davon unter dem Begriff „Freikirche“ zusammenfassen lässt, ist zwar im Vergleich zu den Großkirchen ein kleiner Anteil in der Menge, aber ein großer in der Vielfalt. Unterliegen Freikirchen denselben Trends niedriger Besuchs- und abnehmender Mitgliedszahlen?

Aus neocharismatischen Gottesdiensten – eine freikirchliche und besonders öffentlichkeitswirksame Strömung, gegründet im 21. Jhd. – würde die Antwort womöglich klar und deutlich „Nein!“ lauten. Wie auch immer der Einzelne diese Art des Gottesdienstes bewerten mag, kommt er doch nicht umhin, die vor Lebendigkeit sprudelnden jung-dynamischen Teams zu bemerken, die Worship-, Welcome-, Prayer- und Translation-Team heißen, nach der Celebration in der Coffee oder Ladies Lounge sitzen, die ausufernde Bühnentechnik abbauen oder in Meetings den nächsten Reach besprechen – eine richtige Bubble eben. Die Stimmung ist geschäftig, gesellig, gastfreundlich. Und es offenbart sich jedem, der auch nur mal einen flüchtigen Blick hineinwirft: Die Besucherzahlen derartiger freikirchlicher Gottesdienste suchen ihresgleichen.

In Freikirchen sind durchschnittlich 40 Prozent mehr Besucher:innen als in der ev. Landeskirche.

So veröffentlichte das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD bereits im November 2021 in einer repräsentativen Studie zum 2. Kirchengemeindebarometer geeignete Vergleichsdaten, die 2020 unter Angehörigen der evangelischen Landeskirche, der Freikirchen und der landeskirchlichen Gemeinschaften (LKG, organisatorisch selbstständige Gruppen innerhalb der ev. Landeskirchen mit freikirchlichem Charakter): Erhoben wurde die durchschnittliche Teilnehmerzahl an Gottesdiensten und Gemeindeaktivitäten am Wochenende im Verhältnis zur Mitgliederzahl der Gemeinden. Während hier nur drei Prozent der Kirchenmitglieder der evangelischen Landeskirchen zu verzeichnen sind, nehmen hingegen 40 Prozent der freikirchlichen Mitglieder teil, bei der LKG sind es sogar durchschnittlich 57 Prozent.

Ebenso aufschlussreiche Zahlen liefert die im September 2022 veröffentlichte „Stuttgarter Gottesdienst- und Gemeindestudie“ des Forschungsinstituts „Liebenzell Institute for Missiological, Religious, Intercultural, and Social Studies“ (LIMRIS) der Internationalen Hochschule Liebenzell. Das Besondere: Man setzte hier den Fokus auf Gemeinden-, und Gottesdienstbesuch, anders als mitgliederbezogene Studien, die nur begrenzt aussagekräftig sind, da sie die vielen Gottesdienstbesucher mit ihren Umfragen nicht erreichen können. Die Daten wurden bereits im Herbst 2019 erhoben und bilden das christlich-religiöse Spektrum der Metropolregion Stuttgarts ab. Dort besuchen fünf Prozent der Bevölkerung am Sonntag einen Gottesdienst. Protestantische Freikirchen haben dabei mit 47.100 um 40 Prozent mehr Besucher als die Gottesdienste der evangelischen Landeskirche, die sich auf 35.600 Menschen belaufen.

Die Vielfalt der freikirchlichen Landschaft

Auch wenn sich dieser Trend ausmachen lässt, ist hier Vorsicht geboten. Denn es gibt nicht die Freikirche, sondern eine unheimlich vielfältige Landschaft von Gemeinden unterschiedlichster Art, Größe, mit unterschiedlichen Glaubensverständnissen, von liberal-progressiv bis konservativ-evangelikal. Das bestätigt auch die Stuttgarter Studie: Von insgesamt 1418 Gemeinden, lassen sich 752 Gemeinschaften (53 Prozent) den beiden Großkirchen zuordnen. Die verbleibenden 46 Prozent bilden 666 Gemeinden und Gemeinschaften, die freikirchliche oder orthodoxe Gottesdienste anbieten und laut den Autor:innen in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbeachtet bleiben. Bemerkenswert sei auch, dass sich die 957 protestantischen Gemeinden auf 122 Denominationen verteilen, was „viel bunter als allgemein angenommen“ sei, so die Autor:innen.

So werden Mitglieder- und Besucherzahlen systematisch unterschätzt.

Das macht es auch schwer sich einen Überblick zu verschaffen. Zudem braucht es sozialpsychologischen als auch theologischen Sachverstand um Freikirchen vom allzu häufigen Klischee der Fundamentalisten oder religiösen Sondergemeinschaften (ehemals. „Sekten“) zu unterscheiden – wenngleich Definitionsversuche auch nicht ganz trennscharf sind. Doch das bisher zurückhaltende Forschungsinteresse an Freikirchen nimmt in den letzten Jahren an Fahrt auf und repräsentative Studien differenzieren zunehmend, nehmen evangelische Freikirchen als Antwortoption auf, wenn nach der Religion gefragt wird. Trotzdem bleiben die Forschungslücken groß: So werden Mitglieder- und Besucherzahlen systematisch unterschätzt. Denn in vielen Freikirchen ist es nicht mehr oder war es nie üblich, geschweige denn notwendig Mitglied zu werden. Viele, die sich als zugehörig empfinden und in ihre Ortsgemeinde aktiv eingebunden sind, sind nach statistischen Parametern genau genommen nur Gäste und werden, wenn überhaupt, über Besucherzahlen erfasst. Somit ergibt sich insgesamt für die Freikirchen ein genau entgegengesetztes Verhältnis von Mitglieds- und Besucherzahlen als in den Großkirchen: Viele Besucher, wenig Mitglieder.

Pfr. Dr. Lothar Triebel als Referent für Freikirchen am Konfessionskundlichen Institut in Bensheim verweist außerdem auf die internationalen Gemeinden, von denen viele nicht einer der traditionellen deutschen Freikirchen angehören und in der Freikirchenforschung wenig im Blick seien. Triebel schätzt die Zahl der Angehörigen insgesamt auf eine deutlich sechsstellige Zahl und merkt dazu an: „Die internationalen Gemeinden gehören zwar nach religionssoziologischem Verständnis zumeist in den Bereich der Freikirchen, aber nur selten nach ihrem eigenen. Insofern sie eine starke Rückbindung an bestimmte Herkunftsländer oder -regionen haben – gilt nicht für alle – ist schon die Frage schief, weil in den meisten Ländern dieser Welt alle Kirchen Freikirchen sind“. Damit ist klar, dass auch repräsentative Bevölkerungsumfragen, bei denen die Befragten selbst die (Nicht-)Zugehörigkeit angeben, den tatsächlichen Anteil dennoch unterschätzen. Der ALLBUS 2021 kam in seiner repräsentativen Befragung zuletzt auf einen Anteil von 2,2 Prozent der Bevölkerung, der sich selbst als evangelisch-freikirchlich einschätzt.

Freikirchen – eine Erfolgsgeschichte?

Können die Freikirchen, im Gegensatz zu den beiden etablierten Kirchen, ein Nettowachstum verzeichnen? Betrachtet man die Entwicklung der Mitgliedszahlen insgesamt, lässt sich dies nicht bestätigen. Ein Vergleich der Mitgliedszahlen von November 2021 und November 2022 aus der Statistik der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF) – dem größten Dachverband der klassischen Freikirchenverbände – zeichnet ein Nettowachstum von Plus-Minus-Null, wobei der größte dort vertretene Bund freier Pfingstgemeinden (BFP) seit 1996 kontinuierlich wächst. Der große Kontrast zu den Großkirchen bleibt dennoch aus, gleichwohl die Zahlen hier nicht systematisch fallen.

Nach Steinkühler (2021) vom SI-EKD gilt es zu differenzieren: „Während vor allem pfingstlerisch-charismatische Bewegungen starken Zuspruch erhalten, weisen v. a. die konfessionellen Freikirchen, wie die Altreformierte Kirche und die Selbstständige Ev.-Luth. Kirche, aber auch z. T. klassische Freikirchen wie die Mennoniten oder die Herrnhuter Brüdergemeine, den gleichen Trend der sinkenden Mitgliederzahlen wie die Gemeinden der Landeskirchen auf, wenn auch in einem geringeren Ausmaß“ (S. 1). Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus der kürzlich erschienenen Stuttgarter Studie. So resümiert Dr. Tobias Schuckert, wissenschaftlicher Mitarbeiter am LIMRIS-Institut: „Eine Gestaltung des Gottesdienstes im Worship-Stil mit einer schriftbezogenen und lebensnahen Verkündigung steht in Zusammenhang mit einem überdurchschnittlichen Mobilisierungsvermögen und erweist sich als Wachstumsfaktor.“ Gleichzeitig gibt es, laut Triebel, deutliche Hinweise auf Transferwachstum, also den Wechsel aus der einen in die andere Freikirche und auch über verschiedene Konfessionsgrenzen hinweg, zum Beispiel durch ehemalige Landeskirchler:innen oder Katholik:innen.

Religiöse Vielfalt mitdenken

Ob die Bedeutung von Freikirchen über- oder unterschätzt wird, darin ist man sich auch in Expert:innenkreisen uneinig. Klar ist, dass das Christentum in Deutschland unheimlich vielfältig ist und, dass dieser Umstand in den letzten Jahren zunehmend thematisiert wird – sicherlich auch durch den gewachsenen Einfluss der Evangelikalen in den USA und Brasilien. Dass Freikirchen aber einen starken Aufschwung erfahren, im Sinne ihrer Mitglieds- und Besucherzahlen, kann zumindest nicht für Freikirchen allgemein behauptet werden. Vielmehr verfestigt sich das Bild einer religiös pluralen Bevölkerung Deutschlands, die neben den beiden Großkirchen, in vielen weiteren Religionen und Konfessionen ihren Ausdruck findet. Ein offenes Forschungsfeld bleibt die Situation der internationalen Gemeinden, insbesondere auch der oft von (Spät-)Aussiedler:innen geprägten orthodoxen Kirchen in Deutschland. Diese Vielfalt mitzudenken bleibt eine Herausforderung, aber ist die Voraussetzung für ein gesellschaftliches Miteinander, das Minderheiten nicht auf ihre bloße Zahl degradiert, sondern wertschätzt und sowohl ihre Beiträge als auch ihre Bedürfnisse sieht. Die religiöse Vielfalt Deutschlands als auch die der charakteristischen Vergleichsländer soll auch das Schwerpunktthema der nächsten Religionsmonitor 2023-Veröffentlichung im Januar sein.