Biodeutsch – (Un)Wort des Jahres
Biodeutsch – (Un)Wort des Jahres: Emanzipation oder Ausgrenzung? Eine kultursoziologische Perspektive
Das Jüdische Museum Frankfurt war im vergangenen Jahr Schauplatz einer lebhaften Diskussion über jüdisch-muslimische Allianzen. Dabei ging es auch um die Frage, wer zu Deutschland gehört und wie lange es dauert, bis Neuankömmlinge als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden. Mitten in der Debatte benutzte ich den Begriff biodeutsch, um die enge Beziehung zwischen Juden und Muslimen in Frankfurt zu beschreiben. Der jüdische Gastronom und Podiumsteilnehmer, James Ardinast griff das Wort auf: „Ich war vor zwei Jahren auf einem Gastronomen-Treffen. Da hat ein türkischstämmiger Deutscher die ganze Zeit von Biodeutschen gesprochen. Irgendwann hat ein Biodeutscher, der auch wirklich so aussah wie ein Biodeutscher [Frankfurter Publikum lacht laut], den türkischen Gastronomen angeschrien: ,Hör auf von Biodeutschen zu reden, das haben die Nazis erfunden‘.“ Ardinast war erstaunt über diese ihm unbekannte etymologische Erklärung: „Ich habe das gleich gegoogelt. Ich habe ja auch jüdische Wurzeln und benutze das Wort selbst.“ Und tatsächlich sei biodeutsch ein Begriff, der von Deutschen mit Migrationshintergrund geprägt wurde, die damit ihre Erfahrungen und Probleme mit Integration ausdrücken wollten, so Ardinast, „weil wir eben nicht der Norm entsprechen“.
Das „Unwort“ des Jahres weist eine komplexe Geschichte auf
Auch wenn biodeutsch kürzlich zum Unwort des Jahres 2024 gewählt wurde, weil es laut Jury eine Form von Alltagsrassismus darstellt, indem es eine vermeintlich harte Unterteilung in „richtige“ Deutsche und „Deutsche zweiter Klasse“ vornimmt, zeigt die Anekdote im Jüdischen Museum, dass die Geschichte des Wortes komplexer ist und ein wichtiges Beispiel für einen postmigrantischen Emanzipationsprozess darstellt. Der Kabarettist Muhsin Omurca benutzte das (Un-)Wort vor fast 30 Jahren, um seine Erfahrungen als „Neudeutscher“ mit deutschem Pass, aber ohne das Gefühl, wirklich als Deutscher akzeptiert zu werden, auf der Bühne zu verarbeiten. „Humor“, sagte er kürzlich der FAZ, „ist die beste Medizin, um auch mit schmerzhaften Erfahrungen gut umzugehen.“ Biodeutsch ist also in den 1990er Jahren in einer postmigrantischen Jugend- und Künstlerkultur entstanden, um das eigene Gefühl, deutsch, aber eben doch nicht biodeutsch zu sein, ironisch in (Un-)Worte zu fassen und auf Integrationsschwierigkeiten und Diskriminierungserfahrungen hinzuweisen.
Kulturelle Codes zur Überwindung sprachlicher und sozialer Grenzen
Auch in meiner Forschung zu jüdisch-muslimischen Begegnungen im Frankfurter Bahnhofsviertel konnte ich beobachten, wie der Begriff Biodeutsche bis heute im Alltag verwendet wird. Er gehört zum Kiezslang in multikulturellen Vierteln, um wie das türkische Pendant Almans oder auch Kartoffeln die vermeintlich typischen und vielleicht auch etwas privilegierten Biodeutschen zu beschreiben. Menschen benutzen oft kulturelle Codes, Slangs und Schimpfwörter, um sprachliche und soziale Grenzen zu überwinden. Das Erlernen der Sprache des kulturell Anderen signalisiert dabei Vertrauen, gemeinsames Wissen und geteilte Erfahrungen.
Einer meiner jüdischen Gesprächspartner, Jakub, fasste dieses „Wir-Gefühl“ wie folgt zusammen: „Wir Juden haben mit den Muslimen noch ein bisschen mehr gemeinsam. Nicht nur religiös, wie kein Schweinefleisch und so, sondern mehr über gemeinsame Erfahrungen, Werte und dieses gemeinsame ‚Minderheitsgefühl‘, das uns automatisch verbindet“. Sein langjähriger Freund Ahmet, der von Jakub jiddische Witz gelernt hat, erklärte: „Die Biodeutschen haben meine Familie erst als Gastarbeiter, dann als Ausländer und jetzt als Muslime abgestempelt“. Von Jakubs Familie und anderen jüdischen Bekannten habe er sich jedoch nie abwertend behandelt gefühlt. Jakub äußerte auch Empathie für die in Deutschland geborenen Muslime: „Sie sind nie richtig angekommen und werden anders behandelt als die Biodeutschen“. Dann erinnerte er sich an einen Zeitungsartikel, in dem es hieß, dass Deutsche es vermeiden würden, Muslime als Nachbarn zu haben, woraufhin er sagte: „Niemand will auch neben uns [Juden] wohnen.“
Wo sich Diaspora-Netzwerke herausbilden, entsteht auch sprachliche Innovation
Das Sichtbarmachen gemeinsamer Interessen ist ein wichtiger Bestandteil des postmigrantischen Aktivismus der letzten zehn Jahre. Jüdisch-muslimische Kulturkooperationen in Frankfurt gehen beispielsweise auf die Hip-Hop-Szene mit Rappern wie Moses Pelham, Hassan Annouri oder Azad Azadpour in den 1990er Jahren zurück. Diese jüdischen und muslimischen Künstler betonten die Bedeutung des Bahnhofsviertels als komplexen und zugleich inklusiven migrantischen Raum, in dem sie sich mit Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzten und Musik als Form des migrantischen Empowerments nutzten. Dabei leisten sie einen Beitrag zum Diskurs über die postmigrantische Gesellschaft in Deutschland, die von der Anerkennung von Migration und Diversifizierungsprozessen geprägt ist, was zu einer ständigen Neuverhandlung etablierter kultureller, ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten, Hierarchien und Ressourcen führt. Dabei spielen auch Wortschöpfungen wie biodeutsch eine wichtige Rolle. Eine kultursoziologische Erkenntnis ist in diesem Zusammenhang, dass überall dort, wo sich Diaspora-Netzwerke und postmigrantische Identitäten herausbilden, in der Regel auch neue soziale Praktiken, Gemeinschaften und sprachliche Innovationen jenseits nationaler Homogenität entstehen.
Postmigrantische Ausdrücke wie biodeutsch dekonstruieren statische Vorstellungen von Homogenität
Der postmigrantische Begriff biodeutsch steht daher in dieser Tradition und dekonstruiert statische Vorstellungen von Ethnizität, Religion und Nationalität. Dabei ist er als Ausdruck von Kritik und Forderung zugleich zu verstehen. Er entlarvt ein dominantes Verständnis von Zugehörigkeit, zeigt aber auch den Wunsch von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, als Deutsche anerkannt zu werden.
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani kommt in seinem Bestseller „Integrationsparadox“ zu dem Schluss, dass biodeutsch „Ausdruck eines emanzipatorischen Anspruchs ist: Ein Teil der konstruierten Minderheit findet ein Wort für die konstruierte Mehrheit, dreht also den Spieß um, aber in konstruktiver, irgendwie doch verbindender Form“. Mit diesem Vermächtnis scheint mir die Reduktion des Begriffs der Marburger Jury auf die vermeintlich rechte Aneignung zum Teil übertrieben, wie der Schöpfer des Wortes Omurca selbst diesen Sachverhalt kommentiert: „Es ist wirklich ein interessantes Gefühl, dass ausgerechnet meine Gegner diesen Witz als Identitätsbezeichnung übernommen haben. Vielleicht hatten sie eine Identitätskrise, und als der Türke mit seinem Wort kam, dachten sie: ‚Das passt ja super!‘ Das ist wirklich der Gipfel der Satire.“
Verhandelt werden Fragen von Zugehörigkeit und Identität, aber auch von Alltagssprache und lokaler Emanzipation
In der aktuellen Debatte um biodeutsch geht es aber um die großen gesellschaftlichen Fragen, wie wir Zugehörigkeit und Identität definieren und wer das Recht und die Macht hat, über die Definitionen der anderen zu bestimmen. Umgekehrt geht es aber auch um Alltagssprache und lokale Emanzipation, die wir, wie die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman zu Recht feststellt, haben, wenn wir in einem offiziellen Dokument oder Parteiprogramm „Almanis“ oder Biodeutsche schreiben oder bei der Polizei „kriminelle Kartoffel“ vermerken. Anders die Fremdzuschreibungen, die Millionen Menschen ungefragt als „Nafris“, Flüchtlinge, Migranten, Muslime oder Juden deklarieren: Sie finden oft offizielle Verwendung in Statistiken und Medien. Bei diesen Begriffen geht es also nicht nur um den sachlichen Inhalt, sondern auch um das, was die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild „Feeling Rules“ nennt, also um kulturspezifische Normen, die bestimmen, welche Emotionen in einer Gesellschaft angemessen sind und wie sie ausgedrückt werden sollen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Wort biodeutsch bei den meisten Deutschen ohne Migrationsbiografie auf Ablehnung und Empörung stößt, wie ein MDR-Beitrag zum Thema zeigt. Während die Mehrzahl der Befragten biodeutsch mit Ausdrücken wie „Unding“, „nicht nachvollziehbar“, „alle sind willkommen“, „Katastrophe so zu reden“ oder „grausam“ deklassiert, verweist die einzige interviewte Muslimin auf die ursprüngliche Bedeutung und satirische Intention des Begriffs: „Es gibt doch so einen biodeutschen Stil – so Birkenstock-Ladies, manchmal wird es als Schimpfwort benutzt, aber meistens nicht“. Dasselbe Gefühl der Andersartigkeit und Fremdheit kann aber auch bei einem Bio-Saarländer im Berliner Exil aufkommen. In einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland müssen wir lernen, mit dieser sprachlichen und kulturellen Vielfalt umzugehen und neue Formen des Zusammenlebens zu finden. Die Herausforderung besteht darin, eine Sprache zu finden, die die Vielfalt der deutschen Gesellschaft widerspiegelt und gleichzeitig ein Zugehörigkeitsgefühl schafft – was wiederum nicht durch Verbote von oben, sondern nur durch basisdemokratische Aushandlungsprozesse funktionieren kann.