Griechenland zwischen Flüchtlings- und Corona-Krise. Enri Hysenbelli berichtet aus Athen von seinem Einsatz für Geflüchtete
Während wir in Deutschland allmählich Maßnahmen lockern und uns vorsichtig in eine „neue Normalität“ mit dem Corona-Virus begeben, sollten wir unseren Blick auch auf das so wichtige Thema der Zukunft des europäischen Zusammenhalts werfen. Wenngleich Deutschland in den vergangenen Wochen einige Patient*innen aus anderen Nachbarländern aufgenommen hat und damit innereuropäische Solidarität demonstrierte, hatte sowohl die Bundesrepublik als auch die EU als Ganzes, am Anfang keine einheitliche Strategie zur Bekämpfung des Corona-Virus gefunden – stattdessen schien es so, dass jedes Land auf sich allein gestellt war.
Diese Einsicht ist mittlerweile auf politischer Ebene angekommen. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat sich in einem Beitrag in der italienischen Zeitung La Repubblica gegenüber dem Land entschuldigt und die EU-Finanzminister haben sich Mitte April auf ein Corona-Hilfspaket verständigt. Auch die vor ein paar Tagen von der EU ausgerichtete Spendenkonferenz, bei der 7,4 Milliarden Euro für die Erforschung, Herstellung und Verteilung eines Corona-Impfstoffs gesammelt wurden, ist als ein Signal des Zusammenhalts zu deuten. Es ist anzunehmen, dass wir uns nicht am Ende der politischen Diskussionen um weitere Maßnahmen befinden, sondern vielmehr an deren Anfang.
In Zeiten dieser schwierigen politischen Debatten lohnt ein Blick auf die europäische Zivilgesellschaft und deren Eindruck vom Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union.
Das Programm „Lebendige Werte“ der Bertelsmann Stiftung hat in Kooperation mit dem Aladdin Project zu diesem Thema im vergangenen Jahr das Young Europeans Forum organsiert und 100 Aktivist*innen in Berlin zusammengebracht. Unter ihnen war auch Enri Hysenbelli, der in Athen seit mehreren Jahren für das Greek Forum of Migrants tätig ist und mit dem wir vor drei Wochen über die Corona- und Flüchtlingskrise in Griechenland sprechen konnten. Zum Zeitpunkt dieses Interviews befand sich Enri seit einigen Wochen in freiwilliger Quarantäne, da er Anfang/Mitte März noch einen Workshop in Budapest organisiert hatte.
Sebastian: Enri, vielen Dank für dieses Interview. Wie geht es dir?
Enri: Mir geht es gut. Ich bin etwas müde und gelangweilt von der ganzen Situation, in der wir uns befinden. Aber da wir nichts anderes tun können, müssen wir unsere Freunde, unsere Familien und alle anderen beschützen und sollten deshalb zuhause bleiben.
Sebastian: Das stimmt. Als Mitglied des Greek Forum of Migrants befindest du dich momentan im Epizentrum zweier Krisen – auf der einen Seite die Corona Epidemie und auf der anderen die Flüchtlingskrise. Könntest du unseren Lesern zu Beginn erläutern, was deine Rolle beim Greek Forum of Migrants in „normaleren“ Zeiten ist?
„Wir versuchen das Bindeglied zwischen Migrantengemeinschaften und den lokalen und nationalen Behörden zu sein.“
Enri: Es ist in der Tat schwierig auch vor Corona von „normaleren“ Zeiten zu sprechen. Lass mich vielleicht zunächst erklären, was das Greek Forum of Migrants genau macht. Wir versuchen das Bindeglied zwischen Migrantengemeinschaften und den lokalen und nationalen Behörden zu sein. Zudem sind wir in Kontakt mit NGO´s, der Zivilgesellschaft und Journalisten. Wir sind das größte Netzwerk von Migranten- und Flüchtlingsgemeinschaften in Griechenland. Im Grunde genommen, versuchen wir Brücken zu bauen und unsere Mitglieder selbstverständlich auf bestmögliche Art und Weise zu repräsentieren. Bezüglich meiner eigenen Rolle: Ich habe verschiedene Aufgaben im Laufe der Jahre wahrgenommen. Zu Beginn habe ich ehrenamtlich Englischunterricht gegeben, später wurde ich Projekt-koordinator. Ich habe mich hauptsächlich mit Projekten zur Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung, der Förderung von Gleichberechtigung und natürlich der Inklusion von Migranten und Flüchtlinge beschäftigt. Bei den letztgenannten ging es vor allem um die Neuangekommen, die während der Flüchtlingskrise und nach 2016 zu uns kamen.
Sebastian: Sehr interessant. Du hattest während unseres Telefonats erzählt, dass du eigentlich ein neues Forschungsprojekt starten solltest, aber die Corona-Krise dazwischengekommen ist. Wie hat diese Pandemie eure Projekte beeinflusst?
„Uns ist wichtig zu zeigen, dass wir immer noch aktiv sind und dass wir auch in diesen schwierigen Zeiten füreinander einstehen.“
Enri: Alles was wir verschieben konnten, haben wir verschoben. Alles was wir nicht verschieben konnten, haben wir online veranstaltet. Beispielsweise haben wir in den vergangen 5 Jahren alljährlich einen „Marsch gegen Diskriminierung“ organisiert, der am 21. März, dem „Internationalen Tag gegen Rassismus“, stattfindet. Normalerweise nehmen 100 verschiedene Organisationen teil und, abhängig vom Jahr, 2000-5000 Menschen. Leider konnten wir diesem Jahr nicht Seite an Seite demonstrieren, und haben deshalb einen Online-Protest veranstaltet – jede/jeder von uns hat eine Erinnerung an die vergangenen Jahre niedergeschrieben oder eine positive Message für den Tag. Uns ist wichtig zu zeigen, dass wir immer noch aktiv sind und dass wir auch in diesen schwierigen Zeiten füreinander einstehen.
Sebastian: Das ist fantastisch. Wie viele Menschen haben am Ende an diesem digitalen Format teilgenommen?
Enri: Um die 200 – also leider nicht so viele
Sebastian: Das ist trotzdem beeindruckend. Was für andere Dinge tut ihr im Moment?
Enri: Momentan versuchen wir unsere Mitglieder über die Corona-Krise und die Maßnahmen der Regierung zu informieren. Sollte jemand also weder griechisch noch englisch sprechen – die Übersetzungen, die von der Regierung bereitgestellt werden – versuchen wir die Informationen in anderen Sprachen anzubieten.
Sebastian: Die Regierung stellt diese Übersetzungen momentan nicht zur Verfügung?
Enri: Ich glaube nur auf Englisch und Griechisch. Deshalb haben wir die Initiative übernommen. Nicht nur wir, auch andere Organisationen arbeiten daran. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir alle unseren Beitrag leisten. Es gibt viele Initiativen, um die Lücken zu füllen, die der griechische Staat momentan offenlässt, wir tun dies aber auch um das später aufzuzeigen.
Sebastian: Ihr seid wahrscheinlich immer noch in Kontakt mit vielen Flüchtlingen im Moment?
Enri: Wir versuchen mit allen unseren Mitgliedern in Kontakt zu sein und diese über alle Veränderungen in der gegenwärtigen Situation zu informieren. Wir haben vor kurzem eine Online-Kampagne gestartet mit dem Aufruf, dass die griechische Regierung dem Beispiel Portugals folgen solle. Portugal hat allen Migranten und Asylsuchenden temporäre Aufenthaltserlaubnisse gegeben und damit auch Zugang zu Gesundheitsleistungen. Die Kampagne heißt „Do it like Portugal“.
Ein weiteres Beispiel: Während wir beide uns in unseren Wohnungen selbst isolieren, befinden wir uns in einem sicheren Umfeld. Für einige Menschen, darunter insbesondere Frauen, ist dies nicht der Fall. Häusliche Gewalt ist eine der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und wir müssen etwas dagegen tun. Deshalb haben wir einige unserer Poster, die wir in den vergangenen Monaten zu dem Thema veröffentlicht hatten, neu aufgelegt – selbstverständlich in verschiedenen Sprachen, damit auch Frauen, die kein griechisch verstehen, diese lesen und die passenden Telefonhotlines erreichen können.
Sebastian: Es klingt so, als ob eure Arbeit über die Flüchtlingshilfe hinausreicht und ihr im Prinzip ein Netzwerk für alle Menschen seid die Diskriminierung erleben?
„Unsere primären Zielgruppen sind immer Migrant*innen und Flüchtlinge, aber die Identität eines Menschen ist vielfältig.“
Enri: Als zivilgesellschaftliche Akteure versuchen wir immer auch Menschen in anderen Sektoren zu unterstützen. Unsere primären Zielgruppen sind immer Migrant*innen und Flüchtlinge, aber die Identität eines Menschen ist vielfältig. Du kannst auch eine Migrantin und ein Mitglied der LGBTQ-Community (Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgender und Queer) sein oder anderen diskriminierten Minderheiten angehören. Vielleicht bist du ein Migrant, aber auch ein unbegleitetes Kind, und gehörst somit zu den Gruppen, die am meisten Hilfe benötigen.
Sebastian: Also ein multidimensionaler Ansatz.
Enri: Genau. Wir versuchen immer unsere primäre Zielgruppe zu erreichen, aber wenn wir die Möglichkeit haben, mit unseren Projekten noch mehr Menschen zu helfen – wieso sollten wir das dann nicht nutzen?!
Sebastian: Natürlich. Seit Ende März/Anfang April stehen zwei Flüchtlingslager nahe Athen unter Quarantäne. Bist du mit Menschen vor Ort in Kontakt?
Enri: Leider nein. Ich kenne die Situation größtenteils aus den Medienberichten. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob die Menschen in den Lagern genügend getestet werden, da die Bedingungen vor Ort nicht immer die besten sind. Unsere Forderung war immer, dass diese geschlossenen Lager aufgelöst werden und die europäischen Resettlement-Programme wieder aufgenommen werden, damit viele auch in andere europäische Länder gehen können. Da der Großteil der Flüchtlinge nicht in Griechenland bleiben will, können wir sie nicht zwingen in so schlechten Bedingungen zu verharren.
Sebastian: Vor ungefähr einem Monat gab es Auseinandersetzungen an der Griechisch-Türkischen Grenze. Zur gleichen Zeit gab es Berichte über selbst ernannte „Nachbarschaftswachen“ auf den ost-ägäischen Inseln, die Helfer attackiert haben. Glaubst du, dass sich die griechische Bevölkerung radikalisiert hat?
„Die Europäische Union hat Griechenland zu Beginn der Flüchtlingskrise mit vielen finanziellen Mitteln unterstützt, aber das ist nicht genug, wenn so viele Menschen hier festsitzen.“
Enri: Ich glaube, dass die griechische Bevölkerung müde von der Situation ist. Die Europäische Union hat Griechenland zu Beginn der Flüchtlingskrise mit vielen finanziellen Mitteln unterstützt, aber das ist nicht genug, wenn so viele Menschen hier festsitzen. Natürlich darf diese Müdigkeit nicht in Gewalt umschlagen. Ich glaube aber, dass diese faschistischen Attacken die Aktionen einzelner Individuen sind und nicht die griechische Bevölkerung repräsentieren.
Sebastian: Sie sind also eine Minderheit?
Enri: Sie sind eine Minderheit. Ich glaube, dass die Griechen sehr offene und gastfreundliche Menschen sind, aber natürlich findet man in den Medien leichter negative Berichte. Ich glaube schon, dass die gesamte Situation die Bevölkerung ermüdet hat, insbesondere auf den Inseln und nach der Ankündigung der Regierung geschlossene Flüchtlingslager zu errichten.
Sebastian: Ich habe gehört, dass die griechische Regierung sogar das Asylrecht während der Grenzauseinandersetzungen ausgesetzt hat. Würdest du der These zustimmen, dass die Bevölkerung nicht radikalisiert, aber zumindest polarisiert ist?
Enri: Auf jeden Fall polarisiert. Bezüglich der Aussetzung des Asylrechts – das war nach internationalem Recht illegal. Die Regierung kann nicht einfach Asylanträge stoppen, da jede/jeder Asylsuchende einen internationalen Schutz genießt. Sie können zwar den Antrag ablehnen, aber niemandem verbieten diesen überhaupt zu stellen. Ich glaube, dass dies einfach nur ein Versuch war, auf den Druck der Medien zu reagieren und zu zeigen, dass die Regierung etwas getan hat, um zu verhindern, dass Menschen nach Griechenland kommen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Entscheidung war und im Endeffekt wurde diese auch zurückgenommen und Asylanträge werden wieder angenommen. Zudem können auch alle Menschen, die in diesem Zeitraum nach Griechenland kamen, ebenfalls einen Asylantrag stellen.
Sebastian: Wie hat die Bevölkerung darauf reagiert?
Enri: Ich glaube nicht, dass so viele Menschen davon erfahren haben.
Sebastian: Was ist mit diesen selbst erklärten „Nachbarschaftswachen“, die weitere Flüchtlinge auf den Inseln ablehnen?
Die Menschen haben kein Problem mit den Flüchtlingen, sondern mit dem Fehlen von adäquaten Lösungen und Strategien.
Enri: Bei diesen “Nachbarschaftswachen” handelt es sich einfach um Rassisten mit einer rechtsextremen Ideologie, die keine weiteren Flüchtlinge wollen. Getrennt von diesen muss man der Rest der Inselbewohner sehen, die einfach wütend und müde von der Situation in ihren Wohnorten sind. Die meisten sind gegen die Idee der Regierung diese geschlossenen Lager zu errichten, und bevorzugen eine humanitäre Lösung. Ich glaube immer noch, dass diese Menschen kein Problem mit den Flüchtlingen haben, sondern vielmehr mit dem Fehlen von adäquaten Lösungen und Strategien. Sie möchten keine zusätzlichen Lager, weil sie wissen, wie schwierig die Lebensbedingungen in diesen bereits sind. Zudem wollen sie nicht, dass ihre Inseln im Prinzip zu dauerhaften Sonderzonen werden.
Sebastian: Was, glaubst du, sollte die griechische Regierung im Allgemeinen tun, um die Lage auf den Inseln zu verbessern?
Enri: Zuallererst müssen die Menschen von dort weggebracht werden. Ich meine, die Menschen in Moria, wie viele von Ihnen leben in diesen……. Ich sage immer schwierigen Lebensbedingungen, aber ich glaube wir wissen alle was ich meine. Die Regierung muss die Menschen auf das Festland bringen und die Asylanträge müssen schneller bearbeitet werden, damit die Geflüchteten entweder in ein anderes europäisches Land gehen können oder, sofern sie möchten, in Griechenland bleiben können. Ich glaube aber, dass der Großteil nach Nordeuropa will.
Sebastian: Du glaubst nicht, dass viele in Griechenland bleiben wollen?
Enri: Ich glaube nicht. Ich meine, wenn es nach mir geht, sind sie mehr als willkommen hier zu bleiben, aber wir hatten mehrere Finanzkrisen und mit Corona erwarten wir eine weitere. Ich glaube einfach nicht, dass Griechenland für irgendjemanden gerade die erste Wahl ist.
Sebastian: Ich verstehe. In Bezug auf die aktuelle Flüchtlingskrise: Was sollte die Europäische Union, und was sollte Deutschland tun?
„Es ist inakzeptabel, dass man uns als primäres Aufnahmeland sieht und es unsere Pflicht wäre alle dauerhaft hier zu behalten.“
Enri: Die Europäische Union sollte natürlich mehr Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen. Ich meine, es ist inakzeptabel, dass man uns als primäres Aufnahmeland sieht und so tut, als ob es unsere Pflicht wäre alle dauerhaft hier zu behalten. Die EU muss ein Zeichen setzen und jedes Land sollte Flüchtlinge aufnehmen. Wir dürfen nicht nur in guten Zeiten den Zusammenhalt beschwören, sondern müssen dies auch in Krisenzeiten tun. Diese Krise ist keine, die nur Griechenland zu bewältigen hat. Wir haben eine gemeinsame europäische Außengrenze und jedes Land muss Verantwortung tragen.
Natürlich müssen wir diese geschlossenen Lager öffnen und für Lebensbedingungen sorgen, in denen Menschen gut leben und arbeiten können und in unsere Gesellschaften integriert werden. Solange wir Menschen isolieren und Einheimische keinen Kontakt mit diesen haben, wird es immer Vorurteile geben. Einheimische werden ansonsten immer sagen: „die sind anders als ich – Ich will die nicht neben mir haben – Die passen hier nicht hin“. Wenn sich beide Seiten aber begegnen, wird die Bevölkerung merken, dass es sich um ganz normale Menschen wie du und ich handelt.
Sebastian: Das erinnert mich an unser Young Europeans Forum, in dem wir ganz genau das gesagt haben. Nur wenn sich Menschen vor Ort begegnen, gelingt am Ende Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Solange man Menschen aber voneinander trennt, wird dies nicht funktionieren.
„Solange die Flüchtlinge nicht in Kontakt mit Einheimischen sind, werden sie isoliert bleiben und keine Chance haben sich zu integrieren.“
Enri: Ganz genau. Solange die Flüchtlinge nicht in Kontakt mit Einheimischen sind, werden sie isoliert bleiben und keine Chance haben, sich zu integrieren. Vielleicht haben noch ihre Kinder eine Chance, weil sie mit einheimischen Kindern zur Schule gehen, aber für die Eltern wird es sehr schwer werden.
Sebastian: Es scheint, dass in den vergangenen Wochen jedes Land auf sich allein gestellt war und eigenständig mit dem Coronavirus umgehen musste. Im internationalen Vergleich steht Griechenland sehr gut da und Analysten loben die frühe Implementierung strikter Maßnahmen. Wie glaubst du nimmt die Bevölkerung diese Maßnahmen wahr und wie ist die Stimmung im Land und vor allem in Athen?
„Momentan bin ich einfach froh, dass wir alle die Regeln befolgen, da ich nicht erwartet hatte, dass dies so schnell geschehen würde.“
Enri: Ich bin mir sicher, dass niemand gerne zuhause ist, vor allem weil wir nicht daran gewöhnt sind es solange zu sein. Ich meine, vor allem wir Jüngeren sind es gewöhnt, draußen zu sein und Spaß zu haben. Es ist also nicht in unserer Natur, uns so zu isolieren, aber ich glaube wir alle folgen einfach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation – deshalb hat die Regierung diese ja auch umgesetzt. Natürlich ist dies nicht genug…. wir brauchen einen stärkeren gesundheitlichen Sektor, damit jede/jeder die Chance hat, im Krankenhaus behandelt zu werden, wenn er oder sie schwere Corona-Symptome entwickelt. Momentan bin ich einfach froh, dass wir alle die Regeln befolgen, da ich nicht erwartet hatte, dass dies so schnell geschehen würde.
Sebastian: Wie glaubst du – und ich verstehe, dass du nicht für dein Land, sondern nur für dich sprechen kannst – nimmt die griechische Bevölkerung die Europäische Union und Deutschland in diesen Tagen wahr?
Enri: Bezüglich der Corona- oder Flüchtlingskrise?
Sebastian: Beides tatsächlich, wenn du darüber sprechen möchtest.
Enri: Nun, bezüglich der Corona-Krise: Ich glaube nicht, dass Europa etwas getan hat. Jedes Land war auf sich allein gestellt und musste eine eigene Strategie entwickeln. Wir sehen anhand der gegenwärtigen Diskussionen in der Euro-Gruppe, dass einige auch keine weiteren Maßnahmen einleiten wollen. Man redet wieder von „Therapieprogrammen“ für die Länder, die nach finanziellen Hilfen zur Bewältigung dieser Krise fragen.
Bezüglich einer einheitlichen Strategie: Es sieht danach aus, dass man zumindest versucht die Lockerungen gemeinsam zu koordinieren, damit wir wieder in unser normales Leben zurück gehen können. Ich finde, dass das eine gute Idee ist, vor allem, da die EU zu Beginn nichts getan hat. Ich muss aber sagen, dass ich auch erwartet habe, dass jedes Land auf sich allein gestellt sein würde.
Sebastian: Warum?
Enri: Wie ich zuvor erwähnt habe: In guten Zeiten halten wir sehr gut zusammen, aber in Krisenzeiten ist jedes Land auf sich allein gestellt.
„In guten Zeiten halten wir sehr gut zusammen, aber in Krisenzeiten ist jedes Land auf sich allein gestellt.“
Sebastian: Bezieht sich das auf die gesamte Europäische Union?
Enri: Auf den Großteil, ja, ich war relativ enttäuscht darüber. Aber ich glaube und hoffe, dass wir uns ändern werden – dass wir von dieser Krise lernen und zu einem solidarischeren Europa werden.
Sebastian: Das geht direkt über zu meiner nächsten Frage. Hast du eine Einschätzung wie diese zwei Krisen die europäische Solidarität beeinflussen?
Enri: Ich glaube, dass diese schon beschädigt ist. Wir haben erneut den Konflikt zwischen dem Norden und Süden – Deutschland und die Niederländer blockieren die Vorschläge von Portugal, Spanien, Griechenland und Italien, wie man zumindest die drohende Wirtschaftskrise bewältigen kann.
Sebastian: Du spricht über “Eurobonds”?
Enri: Ja, aber lass uns schauen, wie sich das alles entwickelt, da die finalen Entscheidungen noch nicht getroffen wurden. Es gibt viele Stimmen in der Europäischen Union, auch in Deutschland, die Unterstützung andeuten.
Sebastian: Was kann die Zivilgesellschaft tun um den europäischen, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken?
„Gemeinsam sind wir stark – also sollten wir unsere Kooperation stärken und gemeinsame Ziele finden.“
Enri: Wir müssen weiterhin die Kooperation innerhalb der europäischen Zivilgesellschaft stärken. Während der Krisen der vergangenen Jahrehat sich gezeigt, wie stark unsere Gesellschaften bereits miteinander verbunden sind. Sogar mehr Organisationen hier in Griechenland arbeiten mit europäischen Partnern zusammen und versuchen gemeinsam Veränderungen herbeizuwinken. Gemeinsam sind wir stark – also sollten wir unsere Kooperation stärken und gemeinsame Ziele finden.
Sebastian: Gibt es etwas, dass die Zivilgesellschaft vor allem jetzt tun kann? Oder sollten wir uns auf langfristige Veränderungen konzentrieren sobald diese Krise vorüber ist?
Enri: Momentan sollten wir unsere Hilfe vor allem auf lokaler Ebene konzentrieren und insbesondere an die Gruppen richten, die am meisten Unterstützung benötigen. Langfristig müssen wir uns auf Vorschläge einigen, die Veränderungen herbeiführen. Und wie ich zuvor bereits sagte – wir brauchen gemeinsame Ziele, nicht etwas, was nur dem Süden oder Norden gefällt, sondern etwas mit dem wir alle zufrieden sein können
Sebastian: Enri, vielen Dank für dieses Interview.
Enri: Danke, Sebastian. Es war mir ein Vergnügen mit dir über diese Themen zu sprechen. Hoffen wir, dass wir uns beim nächsten Mal unter besseren Bedingungen sehen. Bis dahin wünsche ich dir alles Gute. Lasst uns versuchen, die Menschen zu beschützen, die uns momentan am meisten brauchen.