Was kommt nach Corona: Die totale Isolation oder die resiliente Gesellschaft?

Dies ist ein Gastbeitrag von Dr. Daniel Dettling. Er ist Zukunftsforscher und Politikwissenschaftler und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Mitte Juni erscheint sein neues Buch „Zukunftsintelligenz. Der Corona-Effekt auf unser Leben“ (LangenMüller). Die Langfassung der Szenarien findet sich online unter: https://www.zukunftsinstitut.de/zukunft-heute-corona/#szenarien

Die Welt hat 2020 ihren ersten Shutdown erlebt. Schulen wurden geschlossen, das öffentliche und soziale Leben wurde weitgehend eingestellt, die Wirtschaft erlebt ihren größten Einbruch seit der Großen Depression vor 100 Jahren. Covid-19 hält die Welt in Atem und produziert existentielle Unsicherheit, individuell wie kollektiv, überall und gleichzeitig. Die sozialen und ökonomischen Folgen sind kaum absehbar. Erleben wir das Ende der Globalisierung? Führt die Pandemie zur totalen Isolation der Nationalstaaten, zum Szenario „Alle gegen Alle“? Oder entsteht danach eine neue, sogar bessere Weltordnung?

Das Negativ-Szenario: Die totale Isolation

Das Negativ-Szenario ist schnell erzählt. Die Corona-Krise beschleunigt den Trend zur Deglobalisierung. Während die USA versuchen, deutsche Wissenschaftler abzuwerben und potentielle Impfstoffe aufzukaufen, droht China mit dem Lieferstopp von Schutzkleidung und Medikamenten. Das Vertrauen in die globalen Lieferstrukturen ist nachhaltig erschüttert. Folge ist ein wachsender Neo-Nationalismus. Die Abschottung nationaler Märkte, die Schließung von Grenzen und das Verhängen von Ausgangssperren werden vor allem aus Gesundheitsgründen betrieben. Der Wunsch nach Keim- und Virenfreiheit führt zu einem Verbot von Produkten, deren Herkunft sich nicht eindeutig nachvollziehen lässt. Selbst Lebensmittel werden aus Angst vor einer Ansteckung vor dem Verzehr desinfiziert. Das soziale, kulturelle und öffentliche Leben bricht ein und wird in den virtuellen Raum verlagert. Gesundheitsdaten werden zur Staatsangelegenheit, der Datenschutz aus Gründen des Virenschutzes abgeschafft. Individuelle Bewegungsprofile erlauben ein ständiges Tracking, das Nachverfolgen von infizierten Personen und ihre Isolierung in dafür vorgesehenen Regionen. Die Welt treibt ökonomisch und sozial in eine Abwärtsspirale, ohne dass die Pandemie gestoppt wird. Weil Lebenserwartung und Wohlstand historisch zusammenhängen, führt die anhaltende Wirtschaftskrise zu signifikant höheren Sterblichkeitsraten vor allem in ärmeren Ländern. Auch weil schlecht ausgestattete Gesundheitssysteme in Verbindung mit unzureichendem Versicherungsschutz viele Patienten nicht mehr ausreichend behandeln können.

Auf nationaler Ebene führt das Szenario der Deglobalisierung zu einer De-Urbanisierung und einer neuen Flucht aufs Land. Städte werden zu den nervösesten Plätzen der Welt. Der Trend zum Single-Leben und zu immer kleineren Wohnungen hat die Stadtbevölkerung unselbständig gemacht. Wer kann, zieht raus aufs Land und versorgt sich selbst. Während sich ökonomisch auf nationaler Ebene eine rigorose staatliche Planwirtschaft durchsetzt, erfahren gleichzeitig auf lokaler Ebene Selbstversorgermodelle und Tauschwirtschaft eine neue Renaissance.

Das Positiv-Szenario: Die resiliente und robuste (Welt-)Gesellschaft

Die Corona-Krise kann aber auch zu einer Stärkung der Systeme hin zu mehr Resilienz und Robustheit führen. Die globale Pandemie lehrt uns: Nicht die Abschottung durch das Schließen von Grenzen bremst die Ausbreitung des Virus, sondern konsequente lokale Maßnahmen. Die Gesundheitssysteme kaufen sich wertvolle Zeit, indem sie sich nach innen abschotten und Schwache schützen. Deglobalisierung hat sich als das falsche Rezept gegen Gesundheits- wie gegen Wirtschaftskrisen erwiesen. Denn Abschottung bringt wenig, wenn die Pandemie längst unter uns ist. Protektionistische Maßnahmen hatten zunächst nur dazu geführt, dass wichtige Medikamente und Schutzkleidung überall auf der Welt knapp und Wissenschaftler und Medizin-Unternehmen abgeworben wurden. In einem schnellen auf Einsicht in die Zusammenhänge basierenden Lernprozess hat das Corona-Virus Anlass zu neuen Kooperationen gegeben und zu einem neuen Gleichgewicht der Staaten auf globaler Ebene und ihrer Bundesländer und Kommunen auf lokaler Ebene geführt. In diesem Szenario entwickelt sich mittels einer zukunftsweisenden Synthese eine resiliente globale Gesellschaft. Aus der Globalisierung wird die Glokalisierung: Die Dezentralisierung führt nicht wie in Szenario 1 zu einer Isolation auf staatlicher und lokaler Ebene, sondern zu einer intensivierten Kooperation von Märkten und Wertschöpfungsketten.

Ein digitaler Ruck geht durch die gesamte Gesellschaft. Die technischen Instrumente dazu sind längst vorhanden: Versammlungen und Sitzungen im Internet, Home-Office, Tele-Medizin, neue Formen der Mobilität. So hat Frankreich damit begonnen, Sprechstunden von Ärzten per WhatsApp zu erlauben. In China ist die Nachfrage nach selbstfahrenden Autos in der Krise rapide gewachsen. Gastronomische Betriebe sichern ihre Existenzgrundlage durch die effiziente Nutzung digitaler Bestellmöglichkeiten und effizientem Lieferservice. Die digitale Vernetzung hält die Verbindung der Bürgerinnen und Bürger weltweit aufrecht. Auf lokalen Plattformen organisieren sich Nutzer und Nachbarn für Einkaufsdienste. Verzicht auf physische Nähe bedeutet in diesem Szenario nicht den Verlust von Solidarität und sozialer Nähe. Menschen kommen sich näher, die sich noch nie gesehen haben. Wir lernen uns in dieser Krise gegenseitig sogar besser kennen: als Nachbarn, Arbeitnehmer und Unternehmer. Die Corona-Krise führt auch zu einem neuen ganzheitlichen Gesundheitsverständnis. Gesundheit ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine öffentliche, gemeinsame Angelegenheit. Individuelle Gesundheit und Weltgesundheit werden als zwei Seiten einer Medaille betrachtet. Und die zunehmende Digitalisierung beschleunigt die Entwicklung. Die Zahl der Opfer bisheriger Pandemien war auch deshalb so hoch, weil Gesellschaften und Nationen nur anlog miteinander kommunizieren und nur langsam reagieren konnten. Die öffentliche und kooperative Nutzung von Big-Data und Tracking von Personendaten hilft, Frühwarnsysteme zu entwickeln bei gleichzeitiger Wahrung individueller Freiheitsrechte. Effiziente gesellschaftliche Institutionen sind in der Lage frühzeitig die Gefahr des Missbrauchs der Personendaten verhindern. Mit Hilfe von Predictive Health können zudem genaue Vorhersagen über wahrscheinliche künftige Epidemien getroffen werden. Das ständige Lernen voneinander in supranationalen Netzwerken führt zu einem neuen robusteren Gesundheitssystem. Ärzte, Virologen und Pharmaunternehmen arbeiten bei der Entwicklung von Impfstoffen weltweit zusammen, können unter Absehung von rein wirtschaftlichen Interesse im Sinne der Menschen handeln und ein gemeinsames Denken auf Ebene der Regierungen im Kampf gegen das Virus durchsetzen.

Corona kann die Zukunftsintelligenz erhöhen und unser soziales Immunsystem stärken

Covid-19 fordert unser bisheriges Denken über Wirtschaft und Gesellschaft heraus. Das Virus kann die Zukunftsintelligenz der Systeme erhöhen und geradezu unser gesellschaftliches Immunsystem stärken. Technologische und soziale Innovationen können zum Durchbruch gelangen: Innovationen wie digitale Infrastrukturen, kollaborative Plattformen und soziale Netzwerke, welche unser Leben insgesamt besser, weil widerstandsfähiger machen.

Denn auch nach Corona wird es weiter Seuchen und Epidemien geben, die wir als Nebenfolgen der real existierenden Globalisierung allerdings nicht einfach hinnehmen müssen, sondern präventiv durch globalen Seuchen und Infektionen vorbeugende Maßnahmen begegnen können. Europa kommt dabei aufgrund seiner herausragenden Institutionen in den Bereichen der Medizinforschung und des effizienten Gesundheitssystems eine Schlüsselrolle zu. Covid-19 bedeutet nicht das Ende der Globalisierung, sondern etwas Neues. Die Trends sprechen für den Beginn einer neuen Epoche der Glokalisierung. Die globale und lokale Zivilgesellschaft organisiert sich nach der Krise neu. Auf die schnelle Hyperglobalisierung folgt eine nachhaltige, achtsame Glokalisierung. Vielleicht werden wir im Rückblick feststellen: Die Pandemie hat unser soziales und politisches Immunsystem gestärkt.