Wirtschaftsfaktor Vielfalt: Was zeigt uns Biontech?
Der Erfolg des Mainzer Unternehmens Biontech bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen den Corona-Erreger hat viele Menschen aufmerken lassen. Ein deutsches Unternehmen an der Spitze der globalen pharmazeutischen Forschung – wunderbar! Bemerkenswert ist an Biontech aber auch, dass es von einen Ehepaar mit Zuwanderungsgeschichte gegründet und an die Weltspitze geführt worden ist. Damit ist Biontech beispielhaft für eine mittlerweile große Zahl von erfolgreichen Unternehmen, die zeigen, dass gesellschaftliche Vielfalt eine wichtige Triebkraft für wirtschaftliche Dynamik und unternehmerischen Aufbruchsgeist ist.
Schon vor der Coronakrise war Deutschland kein Land der Gründer:innen und Selbständigen. Im internationalen Vergleich gehen hierzulande wenige neue Unternehmen an den Start. Dies zeigen jedes Jahr aufs Neue Studien wie der Global Entrepreneurship Monitor.
Die fehlenden Gründer:innen sind die fehlenden Unternehmer:innen von morgen – eine Hypothek für Innovationsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. Denn die Stärke der Sozialen Marktwirtschaft beruht nicht allein auf den Erfolgen einiger weniger professionell gemanagter Großkonzerne. Sie basiert auf einer beeindruckend vielfältigen und leistungsstarken Landschaft kleiner und mittlerer Unternehmen, von denen die Mehrzahl von persönlich haftenden Inhaber:innen geführt werden.
Diese mittelständische Landschaft bleibt jedoch nur produktiv, wenn ständig neue Unternehmen hinzukommen. Neue Unternehmen tragen zu einem verbesserten Wettbewerbsklima bei, indem sie innovative Geschäftsideen in bestehende Branchen einbringen oder die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige vorantreiben.
Wer stemmt sich gegen die Gründungsmisere?
Vor diesem Hintergrund ist es besorgniserregend, dass sich Selbständigenquote und Unternehmensbestand in Deutschland seit Jahren rückläufig entwickeln. Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ist der Gesamtbestand an Unternehmen zwischen 2011 und 2018 um insgesamt 8.500 Unternehmen geschrumpft.
Es gibt aber auch einen Trend, der optimistisch stimmt: Immer stärker beteiligen sich Menschen mit Migrationshintergrund am Gründungsgeschehen in Deutschland und sind als Unternehmer:innen aktiv. Zwei aktuelle Studien, die in unserem Auftrag entstanden sind, geben Auskunft über diesen Trend: „Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2018“ und „Ausländische Staatsangehörige als Gründer in NRW zwischen 2003 und 2018“. Auch die KfW Research hat erst jüngst Zahlen ihrer aktuellen Erhebung zum Beitrag von Menschen mit Migrationshintergrund zum Gründungsgeschehen in Deutschland veröffentlicht. Besonders umfassend hat sich zuletzt das IfM der Uni Mannheim im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums mit dem Thema befasst.
Hoher Beschäftigungseffekt
Wie groß der Beitrag von Unternehmer:innen mit ausländischen Wurzeln heute in Deutschland ist, zeigen imposante Zahlen: Die Zahl der Erwerbstätigen, die in Unternehmen beschäftigt sind, deren Inhaber:in einen internationalen Hintergrund hat, wuchs zwischen 2005 und 2018 von rund 1 Million Personen um 50 Prozent auf rund 1,5 Millionen. Der gesamtwirtschaftliche Beschäftigungseffekt – dazu zählen die geschaffenen Arbeitsplätze sowie Arbeitgeber:innen und Alleinunternehmer:innen mit Migrationsgeschichte – ist sogar von 1,55 Millionen auf 2,27 Millionen Personen gewachsen. Besonders hoch war der Beschäftigungseffekt in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg.
Immer mehr Unternehmerinnen
Die Zahl der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund ist von 2005 bis 2018 um 36 Prozent auf 773.000 Selbstständige gestiegen. Sogar um 57 Prozent legte die Zahl selbstständiger Frauen mit Migrationshintergrund im Betrachtungszeitraum zu. Mehr als ein Drittel aller Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte sind heute Frauen.
Die Zahl der Selbstständigen ohne Zuwanderungsgeschichte sank hingegen drastisch: 2018 gab es 275.000 weniger Selbstständige ohne Migrationshintergrund als im Jahr 2005. Das macht deutlich: Ohne Zuwanderung wäre die Gründungsmisere in Deutschland um ein Vielfaches dramatischer.
Nettoeinkommen ist deutlich gestiegen
Selbstständigkeit ist ein Treiber für höheres Einkommen und Wohlstand. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte handelt. Unternehmer:innen ohne Migrationshintergrund haben ihr durchschnittliches monatliches Netto-Einkommen von 2005 bis 2018 um 38 Prozent oder 900 Euro auf 3.200 Euro steigern können (ohne Preisbereinigung). Dahinter bleiben die Zahlen der Selbstständigen mit ausländischen Wurzeln zurück. Aber auch sie erreichten ein Plus von 32 Prozent oder gut 600 Euro auf ein monatliches Nettoeinkommen von rund 2.500 Euro. Damit übertreffen die Selbstständigen mit Migrationshintergrund das durchschnittliche Netto-Einkommen von abhängig Beschäftigten mit Migrationshintergrund um 44 Prozent. Letzteres liegt bei rund 1.700 Euro im Monat.
Branchenvielfalt
Das Profil der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund verändert sich. Mehr als die Hälfte der Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte (55 Prozent) ist heute im Dienstleistungsbereich außerhalb von Handel und Gastronomie tätig. Handel und Gastgewerbe machen nur rund 25 Prozent aus, ein Rückgang um dreizehn Prozent im Vergleich zu 2005. Knapp 198.000 Unternehmer:innen und damit 18.000 weniger als 2005 sind 2018 in Handel und Gastgewerbe aktiv. In allen anderen Branchen – mit Ausnahme der Landwirtschaft – gab es 2018 mehr Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund als 2005.
Inklusives Wachstum
Unternehmer:innen mit Zuwanderungsgeschichte leisten aber auch einen Beitrag zu gelingender Integration. So zeigen Studien des Instituts für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim, dass Migrantenunternehmen in überdurchschnittlichem Maß sozial Benachteiligte beschäftigen und ausbilden. Wer als Zuwanderer ein Unternehmen erfolgreich aufbaut und führt, vergrößert zudem wie oben gezeigt die eigene Chance auf ein höheres Einkommen und soziale Mobilität und kann somit zum Vorbild für ein erfolgreiches Ankommen in der neuen Heimat werden.
Was hier stattfindet, kann man mit Fug und Recht als inklusives Wachstum bezeichnen, also ein Wachstum, das einzahlt auf Beschäftigung und Innovationskraft und das gleichzeitig die Chance auf wirtschaftliche und soziale Teilhabe vieler Menschen verbessert.
Was tun?
Es lässt sich also festhalten: Der wirtschaftliche Leistungsbeitrag von Selbständigen mit Zuwanderungsgeschichte ist beachtlich. Nimmt man Effekte wie die Chance zum Einkommensaufstieg und ihren Vorbildcharakter für gelungene Integration hinzu, sind diese Unternehmer:innen ohne Zweifel ein Motor für ein inklusives Wachstum. Die Unterstützung dieser Gruppe lohnt also in mehrfacher Hinsicht.
Wie kann das Potenzial gehoben werden? Es ist vor allem eine besser ausgestattete Informations- und Beratungsinfrastruktur, die dazu beitragen kann, dass Gründungsvorhaben gelingen oder noch einmal durchdacht werden. Wertvolle Arbeit in der Vernetzung zwischen Beratungseinrichtungen und in der Sicherung, Systematisierung und Weitergabe von Wissen leistet hier seit Jahren die mit Mitteln des BMAS finanzierte IQ Fachstelle Migrantenökonomie.
Das noch junge Fachkräftezuwanderungsgesetz vereinfacht auch für Unternehmer:innen und Gründungswillige die Zuwanderung. Allerdings ist bei der Diskussion um das neue Gesetz die Chance verpasst worden, das deutliche Signal zu geben, dass Deutschland nicht nur Zuwanderung von Fachkräften in abhängige Beschäftigung braucht, sondern dass Dynamik und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft in entschiedenem Maße davon abhängen, dass Deutschland als Gründerland wahrgenommen wird und sich entsprechend offen zeigt.
Schließlich müssen institutionelle Hürden im Zugang zu Selbständigkeit abgebaut werden, um Unternehmertum zu fördern. Ein Weg wäre der, dass Unternehmer:innen mit internationalem Hintergrund stärker in die Selbstverwaltung der berufsständischen Körperschaften eingebunden werden, insbesondere in Kammern, Innungen und Unternehmerverbänden. Nur so können Zugangshürden und auch Vorurteile abgebaut werden, die heute zum Teil noch dazu führen, dass gründungswillige Migrant:innen schlechtere Zugänge zu institutioneller Unterstützung haben oder auch zu Finanzierungsinstrumenten.
Auch immer mehr politische Akteure erkennen, was für wichtige Entwicklungsimpulse von den Migrantenunternehmern ausgehen. Mit dem Münchner Phönix-Preis gibt es ein anschauliches Beispiel, das zeigt, wie es möglich ist, den Leistungsbeitrag und das Engagement von Unternehmer:innen mit internationaler Geschichte öffentlich wertzuschätzen und als wichtigen Bestandteil der Dynamik des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Auch manche Landesregierungen, so etwa die von Nordrhein-Westfalen, versuchen die Selbständigen mit Zuwanderungsgeschichte zu stärken.
Auf internationaler Ebene haben erst jüngst die OECD und die Europäische Kommission Best-Practice-Sammlungen veröffentlicht. Jetzt ist die institutionelle Kreativität der Akteure in Politik, Verwaltung und den Kammern gefragt.
Und Corona?
Eine empirische Aussage über den Effekt der Corona-Krise auf das unternehmerische Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund ist aktuell nicht möglich. Fakt ist, die Corona-Krise bedroht die Existenz gerade vieler kleiner und mittlerer Unternehmen. Besonders bedroht sind junge Unternehmen, die noch nicht über eine solide finanzielle Basis verfügen und Unternehmen in spezifischen Branchen wie dem Einzelhandel und der Gastronomie. Das Baugewerbe und Teile des Verarbeitenden Gewerbes sind – aktuell betrachtet – einem geringeren Risiko ausgesetzt.
Dementsprechend sehen sich Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund ebenso wie Selbständige ohne Zuwanderungsgeschichte je nach Betätigungsfeld aktuell sehr unterschiedlichen Szenarien gegenüber.
In der Erholungsphase nach der Corona-Krise wird es darauf ankommen, dass in Deutschland neue Unternehmen an den Start gehen. Beschäftigung, Wachstumsaussichten und Wohlstand hängen in entscheidendem Maße davon ab. Anreize, Beratungs- und Unterstützungsleistungen sollte Wirtschaftspolitik auf Bundes- und Landesebene setzen. Das besondere Potenzial der vielfältigen Gesellschaft sollte dabei nicht aus dem Blick geraten.