Christsein ohne Kirche
„Man kann auch ohne Kirche Christ sein“, sagen die Menschen in Deutschland. Es sind zwischen 84 und 92 % der Befragten innerhalb und außerhalb der Kirche, die dieser Aussage zustimmen (siehe Abbildung 1). Was bedeutet dieser Befund?
Zunehmende Tendenz zur religiösen Selbstbestimmung
Vor allem eines: Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen bestehen die Menschen darauf, über ihre Lebensführung selbst zu bestimmen. Nicht nur wenn es um ihre Ausbildung und ihren Beruf geht oder um ihre sexuelle Orientierung oder um ihren Lebensstil, sondern auch in Fragen von Glauben und Religion wollen die Menschen autonom sein und sich von gesellschaftlichen Autoritäten und Institutionen so wenig wie möglich vorschreiben lassen. Seit Jahrzehnten beobachtet die Religionssoziologie diese Tendenz zur religiösen Selbstbestimmung der Individuen, die oft mit einer Distanzierung von den Kirchen und manchmal auch mit einer sehr persönlichen Zusammenstellung der eigenen religiösen Überzeugung aus unterschiedlichen religiösen Traditionen zusammengeht. Religionssoziologisch spricht man von Bricolage oder Patchwork-Religiosität, um dieses Phänomen zu bezeichnen.
Abbildung 1. Religiosität und Haltungen zur Kirche unter Kirchenmitgliedern mit und ohne Austrittsabsicht (in %)
Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass zwischen Kirchenbindung und christlichem Glauben ein engerer Zusammenhang besteht, als in der Formel, man könne auch ohne Kirche Christ sein, zum Ausdruck kommt.
Kirchenbindung und christlicher Glaube
Wie weiterführende Analysen zeigen, ist – und das überrascht im Grunde genommen kaum – die Wahrscheinlichkeit, Christ zu sein, innerhalb der Kirche weitaus größer als außerhalb von ihr. Dafür nur ein Beispiel auf der Grundlage der Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) von 2012, bezogen auf Westdeutschland, das sich in religiöser Hinsicht fundamental vom Osten Deutschlands unterscheidet: Von den katholischen Kirchenmitgliedern sagen etwas mehr als 10 %, dass sie nicht an Gott oder ein höheres Wesen glauben, von den evangelischen knapp 20 %. Von den Konfessionslosen sind es hingegen mehr als 50 %, die den Glauben an Gott oder ein höheres Wesen ablehnen. Etwas mehr als 15 % von ihnen wollen sich in dieser Frage nicht entscheiden; etwa 25 % der Konfessionslosen bekennen sich zum Glauben an ein Höheres Wesen und 6 % zum Glauben an Gott. Das heißt, es gibt sehr wohl so etwas wie einen christlichen Gottesglauben bei denjenigen, die nicht der Kirche angehören. Verbreiteter ist der Glaube an ein unbestimmtes Höheres Wesen, den man nur in einem sehr eingeschränkten Sinne als christlich bezeichnen kann. Mit weitem Abstand am größten aber ist die Gruppe derer, die sich nicht zum Glauben bekennt oder diesen Glauben sogar ablehnt. Innerhalb der Kirchen sind die Größenverhältnisse genau umgekehrt. Dort bejahen etwa zwei Drittel den Glauben an Gott oder ein Höheres Wesen, während ein Drittel diesem skeptisch gegenübersteht.
Beachtliche Unterschiede zwischen Konfessionsangehörigen und Konfessionslosen
Der Glaube an Gott, den wir hier als Beispiel für das Christsein genommen haben, stellt durchaus keine Ausnahme dar. Auch wenn wir auf die Häufigkeit des persönlichen Gebets, auf die Intensität des Glaubens an die Auferstehung, auf die Häufigkeit der Kommunikation über religiöse Themen oder auch die Bereitschaft, sich als spirituell zu definieren, schauen, zeigen sich die beachtlichen Unterschiede zwischen Konfessionsangehörigen und Konfessionslosen. So auch in den Daten des aktuellen Religionsmonitors: 5 % der Katholiken bezeichnen sich als weder religiös noch spirituell, 12 % der Evangelischen, aber 46 % der Konfessionslosen.
Bei einer Relationierung von Kirchlichkeit, für die zum Beispiel Kirchenmitgliedschaft und Kirchgang stehen können, und Religiosität, die beispielsweise mit dem Gottesglauben und der religiösen Selbsteinschätzung erfasst werden kann, finden wir also keine Identität, wohl aber starke Überlappungen. Es überrascht daher nicht, dass im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik sich nicht nur die Kirchenbindung, sondern auch die Religiosität abgeschwächt hat. 1949, zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik, gehörten weit über 90 % einer der beiden großen christlichen Kirchen an. 2020 belief sich der Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland auf etwas weniger als 60 %.[1] Doch nicht nur der kirchliche Mitgliederbestand hat sich minimiert. Fast in gleichem Ausmaß ist auch der Gottesglaube zurückgegangen. 1949 sagten nahezu 90 % der Westdeutschen, sie glaubten an Gott. Heute sind es etwa 60 %. Die rückläufige Entwicklung im Gottesglauben wird auch durch die verschiedenen Wellen des Religionsmonitors bestätigt, der allerdings mit einer anderen Kategorisierung arbeitet. Allein in den letzten zehn Jahren ist der Anteil derer, die angeben, ziemlich oder sehr stark an Gott zu glauben, von 47 % auf 38 % zurückgegangen (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2. Religiosität in Deutschland im Zeitvergleich (in %)
Distanz zur Kirche und Nähe zum Christentum?
Die Aussage, man könne auch ohne Kirche Christ sein, in der sich der individuelle Wille zur religiösen Autonomie manifestiert, scheint so nur in begrenztem Maße der Ausdruck einer hoch entwickelten religiösen Individualisierung zu sein, sondern vor allem eine scharfe Distanz zur Kirche zum Ausdruck zu bringen. Zugleich zeigt sich in dieser Aussage aber auch eine gewisse Nähe zum Christentum. Viele wollen, selbst wenn sie aus der Kirche austreten, das Christentum nicht einfach ablegen. Wie die regelmäßig alle zehn Jahre durchgeführten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) belegen, fungiert das Statement, man könne auch ohne Kirche Christ sein, sogar als ein wichtiges Motiv dafür, aus der Kirche auszutreten. Die Behauptung, man könne ja auch ohne Kirche Christ sein, wirkt fast wie eine Art Selbstberuhigung. Mit ihr geben viele zu erkennen, dass sie nicht einfach unchristlich oder religionslos sein wollen, wenn sie zur Kirche auf Distanz gehen. Tatsächlich aber ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie es dann doch sind oder werden.
Die Behauptung, man könne ja auch ohne Kirche Christ sein, wirkt fast wie eine Art Selbstberuhigung. Mit ihr geben viele zu erkennen, dass sie nicht einfach unchristlich oder religionslos sein wollen, wenn sie zur Kirche auf Distanz gehen.
Interessant ist freilich, dass auch viele von ihnen es begrüßen würden, wenn es in der Gesellschaft mehr Spiritualität geben würde. Nach den Daten der aktuellen Welle des Religionsmonitors stimmen 50 % der Konfessionslosen der Aussage zu, mehr spirituelles und ganzheitliches Leben würde der Gesellschaft guttun. Daraus auf ein hohes Bedürfnis nach persönlicher Spiritualität zu schließen, geht wahrscheinlich zu weit. Eine gewisse Offenheit für ein achtsames und ganzheitliches Weltverhältnis und ein gewisses Unbehagen an einer rein positivistischen Weltdeutung wird man aber wohl schon diagnostizieren können.
[1] Zur Erläuterung sei angemerkt, dass Vergleiche nur dann sinnvoll sind, wenn die Grundgesamtheit, auf die man sich bezieht, dieselbe ist. Es ist daher irreführend, die kirchlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik vor 1989 mit denen des wiedervereinigten Deutschland nach 1989 zu vergleichen.