Alles was gerecht ist – Wie schätzen die Deutschen die Gerechtigkeit im Land ein?
Kennen Sie auch dieses Gefühl beim Blick auf die Gehaltsabrechnung: Passt die Bezahlung, die sie erhalten, zu der Leistung, die sie erbracht haben? Nur 22 Prozent der Deutschen beantworten für sich diese Frage mit ja. Und wenn man statt des Einkommens auf die wirtschaftlichen Gewinne im Land blickt, sind sogar nur 9 Prozent der Meinung, dass diese in Deutschland gerecht verteilt würden. Es ist offensichtlich: Die Deutschen haben das Gefühl, es ginge ungerecht zu im Land. Diese Zahlen stammen aus einer Umfrage (S. 83), die wir Anfang 2020 noch vor der Corona-Pandemie durchgeführt haben. In unserer neuen Wertestudie wollten wir es deshalb ein wenig genauer wissen: Wie steht es um das Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland? Und: Empfinden alle gleichermaßen die gesellschaftlichen Bedingungen als ungerecht oder gibt es Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen?
Für die meisten ist klar: Die Welt, in der wir leben ist ungerecht
Über die Hälfte unserer Befragten ist der Meinung, dass es ungerecht in der Welt zugeht. Der vorherrschende Eindruck ist: Egal was man tut, am Ende zieht man den Kürzeren. Dieses Kernergebnis unserer Studie zeigt, dass sich das Ungerechtigkeitsempfinden nicht bloß auf die Einkommensverteilung bezieht, sondern ein weit allgemeinerer Eindruck vorherrscht, dass die Spielregeln, nach denen wir leben nicht fair sind. Gerade einmal 43 Prozent der Befragten stimmten den Aussagen zu, dass man im Großen und Ganzen bekommt, was man verdient, dass sie zuversichtlich seien, dass am Ende Gerechtigkeit immer über Ungerechtigkeit siegt, oder dass man auf lange Sicht für erlittene Ungerechtigkeiten entschädigt würde.
Blick auf Gerechtigkeit aus der Perspektive von sieben Wertemilieus
Unsere aktuelle Studie bietet die Möglichkeit, die Befragten nicht nur nach Alter, Einkommen oder Bildungsgrad zu unterscheiden. Der Ansatz, den wir in ihr verfolgen, ermöglicht es, die Befragten anhand ihrer Werthaltungen und Persönlichkeitseigenschaften nach unterschiedlichen Wertemilieus aufzuteilen. Wir unterscheiden dabei sieben Milieus. Anhand dieser Milieus haben wir auch schon die Einstellungen zur Corona-Pandemie und zum Klimawandel näher untersucht. Wie diese Milieus gebildet werden und wodurch sie sich auszeichnen, ist bereits in einem anderen Blogbeitrag ausführlich beschrieben. Daher hier nur eine kurze Übersicht über die sieben Gruppen:
- kreative Idealist:innen verstehen sich als meinungsstarke Avantgarde und vertreten insbesondere Werte wie Gleichheit, Pluralität und Nachhaltigkeit,
- bescheidene Humanist:innen sind an ähnlichen Werten orientiert, stellen dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse zurück,
- individualistische Materialist:innen sind stark leistungsorientiert und legen vor allem Wert auf Wohlstand und Konsum,
- unbeschwerte Beziehungsmenschen suchen die Geborgenheit sozialer Beziehungen, die ihnen wichtiger ist als individuelle Entfaltungsmöglichkeiten,
- sicherheitsorientierte Konservative orientierten sich an Bewährtem und stehen für Gemeinwohl und Sicherheit,
- leistungsorientierte Macher:innen suchen Erfolg und Anerkennung, legen dabei aber auch Wert auf ethisches Verhalten und Tradition,
- unkonventionelle Selbstverwirklicher:innen wollen sich vor allem als Individuum weiterentwickeln und vertreten eher postmaterialistische Werte.
Wer erfolgreicher ist, empfindet auch die Gesellschaft als gerechter
Die pessimistische Grundhaltung im Hinblick auf die Gerechtigkeit der Gesellschaft insgesamt bleibt auch bestehen, aber es zeigen sich teils deutliche Unterschiede, wenn man die sieben Milieus miteinander vergleicht: Die leistungsorientierten Macher:innen sind das einzige Milieu, in dem eine Mehrheit (55 Prozent) die Meinung vertritt, die Welt sei gerecht. Dieses Milieu zeichnet sich unter anderem auch durch ein höheres Einkommen und eine bessere soziale Stellung aus. Hingegen fällt unter den Idealist:innen und den Humanist:innen der Glaube an eine gerechte Welt mit nur 30 Prozent Zustimmung gering aus. Am schwächsten ausgeprägt ist er jedoch unter den Materialist:innen, von denen gerade mal ein Viertel die Ansicht vertritt, im Großen und Ganzen sowie auf lange Sicht wäre die Gesellschaft gerecht.
Überraschend ist, dass sich die Leistungsorientierten und die Materialist:innen soziodemographisch gar nicht groß unterscheiden. Beide zeichnen sich beispielsweise durch ein hohes Einkommen aus. Üblicherweise hätte man daher erwarten können, dass auch in beiden Milieus das Gerechtigkeitsempfinden ähnlich stark ausgeprägt ist. Denn aus der Forschung weiß man: Wer selbst ökonomisch erfolgreich ist, neigt eher dazu, die Bedingungen, unter denen der Erfolg zu Stande kam, als gerecht anzusehen. Auf diese Weise wird die eigene Position in der Gesellschaft legitimiert. Dies bestätigt sich auch dann, wenn man die Einkommen direkt betrachtet. In der Gruppe mit einem hohen Einkommen (2.250 Euro Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen) sagen 55 Prozent, dass man im Großen und Ganzen bekommt, was man verdient. Bei einem niedrigen Einkommen (weniger als 1.125 Euro) sind es gerade mal 42 Prozent, die sich so äußern.
Leistungsorientierte und Materialist:innen haben also eine ähnliche soziale Lage, bewerten diese aber aufgrund ihrer Werthaltungen sehr unterschiedlich. Dies legt den Schluss nahe: Während die Leistungsorientierten den eigenen Erfolg als Beleg dafür sehen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen mehr oder weniger gerecht sind, haben die Materialist:innen den Eindruck, dass sie hart für das arbeiten müssen, was sie haben, während andere dies ohne eigenes Zutun erreichen.
Gerechtigkeit, was heißt das eigentlich? Gleichheit, Leistung, Bedarf und Anrecht
So eindeutig der Befund erscheint, dass eine Mehrheit die Gesellschaft als ungerecht empfindet, so vage bleibt dieses Gefühl am Ende. Was genau verstehen die Befragten unter Gerechtigkeit? Stellen sie sich vor, sie müssten einen Geburtstagskuchen aufteilen. Die einfachste und vermeintlich gerechteste Variante könnte sein, dass sie alle Stücke gleich groß schneiden und jeder eines bekommt. Alle werden gleichbehandelt. Jetzt beschwert sich aber das Geburtstagskind. Es ist ja heute sein besonderer Tag und allein deshalb würde ihm ein größeres Stück zustehen. Es hat ein Anrecht darauf, mehr zu bekommen. Am Ende bleiben noch zwei Stücke übrig und die Frage steht im Raum, wer die bekommen soll. Ein Gast führt an, heute weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen zu haben. Alle sind sich einig, er soll ein zusätzliches Stück bekommen, weil er einen größeren Bedarf hat, den eigenen Hunger zu stillen. Zuletzt melden sie sich, haben sie doch den Kuchen gebacken und die Party vorbereitet. Das letzte Stück ist also ihre zusätzliche Belohnung für eine erbrachte Leistung. Beim fiktiven Aufteilen des Kuchens kamen vier unterschiedliche Prinzipien zum Zuge, bei denen es schwerfällt zu entscheiden, ob eines davon für mehr Gerechtigkeit sorgt als ein anderes. Auch in unserer Studie haben wir diese vier Gerechtigkeitsprinzipien unterschieden und sie näher untersucht, wenngleich auch nicht im Hinblick auf Backwaren:
- Das Leistungsprinzip: Die Gesellschaft ist gerecht, wenn hart arbeitende Menschen mehr verdienen als andere.
- Das Bedarfsprinzip: Die Gesellschaft ist gerecht, wenn sie sich um Arme und Bedürftige kümmert, unabhängig davon, was diese der Gesellschaft zurückgeben.
- Das Gleichheitsprinzip: Die Gesellschaft ist gerecht, wenn Einkommen und Vermögen gleichmäßig auf alle Menschen verteilt sind.
- Das Anrechtsprinzip: Die Gesellschaft ist gerecht, wenn Menschen aus Familien mit hoher gesellschaftlicher Stellung Privilegien genießen.
Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft werden breit geteilt
Überraschend einmütig fallen die Ergebnisse zu den unterschiedlichen Gerechtigkeitsprinzipien in den verschiedenen Wertemilieus aus. Dem Bedarfs- und dem Leistungsprinzip stimmen in allen Milieus die meisten Befragten zu. Insgesamt werden diese beiden Kernprinzipien der sozialen Marktwirtschaft von 86 bzw. 85 Prozent der Befragten in unserer Studie geteilt. In einigen Milieus liegt die Zustimmung sogar über 90 Prozent. In sechs der sieben Milieus liegen die Werte für das Leistungs- und das Bedarfsprinzip eher eng beieinander. Nur unter den Materialist:innen ist die Zustimmung zum Leistungsprinzip mit 92 Prozent deutlich höher als zum Bedarfsprinzip mit 63 Prozent.
Das Gleichheitsprinzip ist zwar mehrheitsfähig, jedoch mit geringerer Zustimmung
Während das Bedarfs- und das Leistungsprinzip ungeteilt große Zustimmung erfährt, fällt die Zustimmung zum Gleichheitsprinzip demgegenüber ab. Insgesamt stimmen diesem Prinzip zwar immer noch eine Mehrheit von 61 Prozent der Befragten zu, dies sind aber deutlich weniger als bei den beiden vorherigen Prinzipien. Unter den Materialist:innen sind es sogar nur 42 Prozent, die die Gerechtigkeit an der Gleichheit festmachen. Das ist ein wenig verwunderlich, weil doch gerade Gleichheit und Gleichbehandlung als sehr ursprünglich gelten können. Bereits kleine Kinder reagieren beispielsweise sehr empfindlich darauf, wenn Süßigkeiten ungleich verteilt werden. Womöglich bildet sich hier auch eine gewisse Hierarchie der Prinzipien ab: Grundsätzlich sollen alle gleichbehandelt werden, aber davon kann (und muss) abgewichen werden, wenn entweder jemand einen erhöhten Bedarf hat und Unterstützung benötigt oder mehr geleistet hat als die anderen. Gleichheit, die Unterschiede und Kontexte nicht berücksichtigt, so könnte man argumentieren, erzeugt sogar ein stärkeres Gefühl von Ungerechtigkeit.
Gänzlich abgeschlagen und nur von einer Minderheit vertreten wird das Anrechtsprinzip. Gerade einmal 22 Prozent der Befragten empfinden die Privilegierung aufgrund einer herausgehobenen Position als gerecht.
Unzufriedenheit ja, aber keine Polarisierung bei Gerechtigkeitsfragen
Trotz der unterschiedlichen Werthaltungen, die sich in den sieben Milieus widerspiegeln, ist sich eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland darüber einig, worauf die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft fußt: Gerecht ist, wenn denjenigen, die Hilfe und Unterstützung brauchen, geholfen wird und wenn jene, die hart arbeiten und viel leisten, auch mehr verdienen. Zu groß dürfen dabei aber die Unterschiede nicht werden, denn Gleichheit wird auch mehrheitlich unterstützt. Die Menschen sind also keineswegs gespalten darin, welche grundlegenden Vorstellungen von Gerechtigkeit sie teilen. Über alle Wertemilieus hinweg gibt es ein klares Bekenntnis zu den Kernprinzipien der sozialen Marktwirtschaft: Leistung soll sich lohnen sowie Arme und Bedürftige haben einen Anspruch auf Unterstützung. Zugegeben, wie dies im Detail erreicht und umgesetzt werden kann, ist keineswegs trivial und bietet genug Anlass für gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Anzeichen für eine tiefgreifende Spaltung über die grundlegende Zielrichtung liefern unsere Daten jedoch nicht. Was trotz aller Einmütigkeit bleibt ist, das weitverbreitete und tiefsitzende Gefühl, von Ungerechtigkeit. Die von vielen geteilten Prinzipien scheinen in der Praxis noch lange nicht vollständig erfüllt zu sein.