„Es geht doch hier um meine Freiheit – oder etwa nicht?“ Wie uns Corona spaltet – und auch eint

Ein Jahr zwischen Lockdown und Lockerung 

Die Corona-Pandemie hat unseren Alltag ziemlich durcheinandergewirbelt. Seit einem Jahr erleben wir häufige Wechsel zwischen Lockdown und Lockerung. Ich selbst arbeite seit einem Jahr im Homeoffice und habe mehr Meetings als je zuvor, wenn auch digital. Meine Kinder freuen sich, wenn sie die Schule mal von innen sehen. Aber Karneval via Zoom und ganz ohne Schunkeln? Na ja. Nichts ist mehr wie zuvor – zumindest ist nichts mehr selbstverständlich. Ob ich Freunde treffe ist nicht mehr allein meine persönliche Sache, sondern betrifft das Gemeinwohl. Jede Entscheidung muss sorgfältig abgewogen werden. Im Hintergrund steht stets die Frage: Erhöht mein Verhalten das Ansteckungsrisiko und ist somit eine Gefahr für die Allgemeinheit? 

Wie diese Abwägung letztlich ausfällt, ist auch eine Frage der persönlichen Risikoabschätzung. Überhaupt spielen im Umgang mit der Pandemie persönliche Sichtweisen eine nicht zu unterschätzende Rolle – zumal die Faktenlage immer interpretationsbedürftig ist. Das zeigen auch die zunehmend kontroversen öffentlichen Debatten. Manche Leute halten die Eindämmungsmaßnahmen für unverhältnismäßig und kritisieren die damit verbundenen Einschränkungen scharf. Andere wiederum wünschen sich ein strikteres Vorgehen, so wie es beispielsweise die No-COVID-Initiative fordert.

Nicht nur unterschiedliche Interessen stehen hierbei auf dem Spiel. Auch persönliche Werthaltungen prägen die Haltungen zur Pandemie-Politik: Wie wichtig sind Selbstbestimmung und Autonomie für das eigene Selbstverständnis? Oder ist die Autonomie gar nicht so zentral, sondern vor allem Sicherheit? All solche grundlegenden Fragen spielen eine Rolle, wenn Menschen Entscheidungen treffen und damit auch, wenn sie die Corona-Maßnahmen bewerten. Letztlich geht es hierbei um eine Abwägung zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl. Das zeigt unsere Studie, die wir unter diesem Titel kürzlich veröffentlicht haben.

Unsere Wertestudie  

Wir haben über 1.000 Personen in Deutschland zu ihren Werten und Einstellungen zu Corona-Maßnahmen, zu ihrer Sicht auf Zusammenhalt und Zukunft befragt. Sichtbar geworden sind dabei sieben Wertemilieus

  • kreative Idealist:innen
  • bescheidene Humanist:innen
  •  individualistische Materialist:innen
  •  unbeschwerte Beziehungsmenschen
  • sicherheitsorientierte Konservative
  •  leistungsorientierte Macher:innen und
  • unkonventionelle Selbstverwirklicher:innen. 

Sie unterscheiden sich nicht nur in ihren Werthaltungen, sondern auch in ihrer Akzeptanz von Corona-Maßnahmen und in ihrer Impfbereitschaft. Zum methodischen Hintergrund der Studie haben wir bereits einen Blogbeitrag veröffentlicht und kürzen das an dieser Stelle ab.  

Sieben Wertemilieus und ihr Blick auf Maßnahmen und Einschränkungen  

Für Humanist:innen hat der Lebensschutz absoluten Vorrang. Dafür sind sie bereit die pandemiebedingten Einschränkungen überzeugt mitzutragen. Die Leistungsorientierten sehen Eingriffe in Freiheitsrechte dagegen kritisch; immerhin jeder Zweite lehnt solche Maßnahmen eher abBesonders entschieden stellen sich stark materialistisch orientierte Personen gegen die Beschneidung ihrer individuellen Freiheiten – jeder Vierte lehnt freiheitsbeschränkende Maßnahmen voll und ganz ab.

Unter Leistungsorientierten und Materialist:innen wollen sich zudem relativ viele nicht impfen lassen unter ersteren gilt das für fast jeden Zweiten; unter letzteren sind immerhin 40 Prozent. Auch wenn die Ergebnisse gerade in Bezug auf die in den letzten Monaten sehr schwankende Impfbereitschaft nur eine Momentaufnahme des gesellschaftlichen Meinungsbildes darstellen, weisen sie auf grundsätzlich unterschiedliche Sichtweisen der Wertemilieus hin. Aber was heißt das jetzt – steuern wir auf eine Spaltung der Gesellschaft zu? 

 Polarisierung oder Vielfalt?  

Auch wenn es anders erscheinen mag: Zunächst sind die Wertemilieus mit ihrem unterschiedlichen Blick auf die Corona-Pandemie Ausdruck unserer gesellschaftlichen Vielfalt. Sie alle vertreten Werte, die wichtig sind – immerhin sind Freiheitsrechte eine Errungenschaft der liberalen Demokratie. Ihre Verteidigung zeigt, dass das vielen Menschen bewusst ist. Bei der politischen Suche nach einem guten Weg aus der Pandemie geht es auch nicht um ein Entweder-Oder, sondern um eine Balance zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl. Freiheiten sind auch mit Verantwortung verbunden. Aber sehen das alle Befragten so? Und vor allem: Sehen das die den Corona-Maßnahmen und der Impfung gegenüber besonders kritischen Leistungsorientierten so?

Der Philosoph David Lauer hat in einem Beitrag darauf hingewiesen, dass das Freiheitsverständnis von so manchen nicht nur mit der Abwesenheit von Zwang, sondern auch mit der Abwesenheit von Pflicht einhergeheHeißt beispielsweise: Spende für den Wohltätigkeitsverein  ja; aber auf den eigenen SUV verzichten für das Gemeinwohl – nein. Hier käme ein eher individualistisch verkürzter Freiheitsbegriff zum Ausdruck. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn der Wert der persönlichen Freiheit ist in unserer Gesellschaft zu einer Selbstverständlichkeit geworden und wurde bislang kaum in seiner Bedeutung hinterfragt. Insofern bietet die Pandemie auch die Chance, Grundwerte – die zwar symbolisch großgeschrieben werden, aber teils zu bloßen Worthülsen geworden sind – neu mit Leben zu füllen. Was heißt Freiheit in einer liberalen, pluralen Demokratie?  

Nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten 

Die Bedingungen sind gut, um diese Auseinandersetzung zu führen. Denn unsere Studie zeigt neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten, an die angeknüpft werden kann – beispielsweise in dem Wunsch nach Veränderung. Die meisten Befragten wollen nicht wieder zurück in ihren früheren Alltag, zum „Business as usual. Für sie ist während der Pandemie greifbar geworden, dass eine zukunftsfähige Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel braucht – und dass dieser Wandel möglich ist. Diese Aufbruchstimmung ist wichtig, um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu bewältigen und auch um langfristige Herausforderungen wie dem Klimawandel zu begegnen. Aber auch für eine grundsätzlichere Debatte zu der Frage: Was macht unsere Gesellschaft aus?

Verschiedene Sichtweisen anerkennen 

Die Politik sollte sich auf diese Gemeinsamkeiten konzentrieren – und gleichzeitig die verschiedenen Interessen und Bewertungen anerkennen. Hierbei geht es nicht darum, allen gerecht zu werden. Das funktioniert in einer Krisensituation nicht, in der klare Entscheidungen und eine langfristige Strategie gefragt sind. Aber es geht darum, den verschiedenen Sichtweisen Raum zu geben, sie sichtbar zu machen und sie damit auch anzuerkennen. Anerkennung hat natürlich auch ihre Grenzen. Sie verlaufen dort, wo Misstrauen gegen demokratische Institutionen gesät wird, wo Sündenböcke (beispielsweise Minderheiten) gesucht und Verschwörungsmythen verbreitet werden. Hier ist seitens der Politik klare Kante gefordert. Aber wie kann neben der Politik auch die Gesellschaft selbst in ihrer Vielfalt zu mehr Zusammenhalt beitragen?

Zusammenhalt in Krisenzeiten

Die Corona-Pandemie ist eine tiefe gesellschaftliche Krise, in der es keine bewährten und schon gar keine einfachen Antworten gibt. Eine liberale Demokratie und ein pluralistisches Land hat bei der Suche nach Lösungen andere Herausforderungen zu bewältigen als ein autoritärer Staat wie China. Empfehlungen, sich doch dessen striktes Corona-Regime zum Vorbild zu nehmen, sind hier wenig hilfreich. In Deutschland und Europa geht es in erster Linie zwar auch um eine konsequente Senkung der Infektionszahlen. Zugleich geht es aber auch darum, unsere offene demokratische Kultur durch ein relativ unbekanntes Gelände zu manövrieren, in dem es Klippen und Abgründe gibt. Diese gesellschaftliche Aufgabe kann die Politik nicht allein leisten und umso wichtiger ist es, hier alle mitzunehmen und einzubeziehen. 

Dialog ist wichtig in Krisenzeiten 

Gerade in Krisenzeiten braucht es deshalb einen breiten gesellschaftlichen Dialog. Nicht die unterschiedlichen Sichtweisen als solche sind das Problem, aber der Eindruck, den anderen nicht mehr zu verstehen – ja gar nicht mehr miteinander im Gespräch zu sein –, führt zu dem Gefühl, die Gesellschaft treibe immer weiter auseinander. Nur im Austausch – der nicht ohne Reibung verläuft – ist es möglich, voneinander zu lernen, die eigene Position zu reflektierten und ein Auseinanderdriften zu verhindern. In einem solchen Dialog können zudem Extrempositionen, die außerhalb unseres demokratischen Rahmens liegen, enttarnt und in ihre Schranken verwiesen werden. Es trägt dazu bei, am Puls der Zeit zu bleiben, das Selbstverständnis stetig abzugleichen und sich weiter zu entwickeln. Dazu gehört auch, sich immer wieder zu fragen: Was heißt Freiheit in der Pandemie? Was heißt Freiheit heute? Und wo berührt sie das Gemeinwohl?

Das gesellschaftliche Leben mit Kreativität und Energie erfüllen 

Die Politik hat die Möglichkeit, diesem Dialog Raum zu geben und ihn zu moderieren, indem sie die unterschiedlichen Perspektiven und Werte sichtbar macht. Und sie ist gefordert, ihre Entscheidungen und Abwägungen noch besser zu erklären und zu begründen. Denn klar ist auch, dass sie nicht allen gerecht werden kann. Umso mehr muss es darum gehen, Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln, die alle mitnehmen. Denn gerade, wenn das gesellschaftliche Leben, das durch das Corona-Virus über lange Zeit ausgebremst wurde, wieder in Bewegung kommen soll, sind alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Stärken gefragt – mit ihrem Freiheitsdrang, ihrer Kreativität und ihrem Sinn für das Gemeinwohl.