Dies ist kein Ramadan-Corona-Tagebuch. Mein Ramadan-Ich in 3 Phasen

Dies ist ein Gastbeitrag von Beyza Arslan. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Dort betreut sie das Podcast-Projekt „Mekka und Jerusalem. Ein Radioprogramm/Podcast zu den Jüdisch-Muslimischen Beziehungen“.

 

„Liebe Beyza, der Anlass für diesen Brief war, dass ich dir und all deinen Lieben einen gesegneten Ramadan wünschen möchte. So vieles ist momentan anders. Besonders für diesen Monat hoffe ich, dass sich aber auch ganz viele schöne und friedliche Momente ereignen werden.“

Kurz vor Beginn des Fastenmonats rief mich eine (nicht-muslimische) Freundin an und erzählte mir, dass sie es sehr bedauere, dieses Jahr nicht an einem großen Fastenbrechen teilnehmen und diesen Moment nicht mit mir teilen zu können. Nachdem das diesjährige Pessach- und Osterfest anders als gewohnt verlaufen war, kam innerhalb meines Freundeskreises und meiner Familie immer wieder zur Sprache, wie denn der Ramadan für uns dieses Jahr so werden wird. Wir wussten, dass wir genauso betroffen sind wie unsere jüdischen und christlichen Mitmenschen. Für den Ramadan gelten schließlich keine Krisensonderregelungen, auch wenn hier und da gemunkelt wurde, ob sich der Monat doch noch verschiebt. Wohin er sich im Fall der Fälle verschieben würde, wusste eigentlich niemand so recht. Manche schlugen die Winterzeit vor, weil da die Tage so schön kurz sind. Trotz der ganzen Späße dachten sich viele einen Moment lang dennoch: Wird Ramadan 2020 gecancelt oder verschoben, so wie die EM 2020? So richtig geglaubt haben das wahrscheinlich nur eine Handvoll Menschen.

Ich muss zugeben, dass mir das mit dem „dieser Ramadan wird anders“ bis zum Beginn nicht sonderlich bewusst war. Durch die momentane Situation dachte ich natürlich auch daran, dass der diesjährige Fastenmonat vermutlich anders wird, aber so richtig realisiert habe ich es, nachdem ich den oben zitierten Brief gelesen habe, der übrigens von derselben Freundin stammt, die mich auch angerufen hat. Da hatte ich es auf einmal schwarz auf weiß. Wie wahrscheinlich die meisten wusste ich ehrlich gesagt auch nicht genau, was die kommende Zeit mit mir persönlich machen würde und vor allem, wie anders der Ramadan sein würde, so ohne große Fastenbrechen und Menschen um mich herum. Das war meine erste Phase, in der ich noch keine großen Vorstellungen hatte, wie sich alles entwickeln würde.

Die Zeit der inneren Reflexion – aber wie genau?  

Im Fastenmonat passiert zwar auch sehr viel um uns herum (Fastenbrechen, Gäste, gemeinsame Gebete, Koranrezitationen in der Gruppe, das Dasein für andere, etc.), aber eigentlich ist er für mich ein sehr privater Monat. Im Ramadan geht es für mich und viele andere meist um diese besondere Art von Stille, Ruhe und Besinnlichkeit. Dieses Gefühl von Entschleunigung, ob es gerade passt oder nicht. Dieses »wieder-auf-den-Boden-der-Tatsachen-Kommen« oder zu sich finden, was für jede muslimische Person eine andere Bedeutung trägt.

„Im Fastenmonat passiert zwar auch sehr viel um uns herum, aber eigentlich ist er für mich ein sehr privater Monat.“

Am Ramadan bin ich eigentlich gezwungen, in mich zu gehen und zu schauen, ob wirklich alles gut ist, ob ich zufrieden bin und wie es so mit meinem iman (Glauben) ausschaut. Auch wenn es gerade unbequem ist, möchte ich unbedingt dieses wichtige Gespräch mit mir selbst führen, das am Ende einfach extrem befreiend wirkt. So ähnlich wie im echten Leben, wenn man unbequeme Sachen vor sich herschiebt, aber es dann irgendwann mal hinter sich bringt und sehr erleichtert ist.

„…diejenigen, die mal zu einem Fastenbrechen eingeladen wurden, verstehen, wie lebendig diese Zeit sein kann…“

Ja, in dieser Zeit geht es zwar um die innere Einkehr und die innere Stille, aber damit ist nicht die Isolation des Selbst gemeint, denn sie schließt zwischenmenschliche Beziehungen nicht aus. Ich empfinde diesen Monat zwar für mich in meiner individuellen Einkehr als ruhig, aber auch als sehr dynamisch und schnell. Denn diejenigen, die mal zu einem Fastenbrechen eingeladen wurden, verstehen, wie lebendig diese Zeit sein kann und wie schnell die Zeit an diesen gesprächigen Abenden vergehen kann. Begegnungen bilden für mich zwar einen wichtigen Teil des Ramadan, diese innere Ruhe und Gelassenheit empfinde ich aber als den eigentlichen Kern, auf dem der Rest quasi beruht. Wie können wir an Ramadan zwischenmenschliche Beziehungen zelebrieren, wenn wir in uns noch nicht zur Ruhe gekommen sind? In meiner zweiten Phase wurde mir also bewusst, dass ich im Vergleich zu den Vorjahren Zeit für Dinge habe, die ich während dieser Zeit eigentlich schon immer machen wollte, wie z.B. Koranübersetzungen noch intensiver studieren, Tarawih-Gebete regelmäßiger verrichten, mehr lesen, die Momente für mich genießen, auch mal ruhige Iftar-Abende verbringen…

„Das alles fällt mir schwer, doch ich muss auch sagen, dass ich den diesjährigen Ramadan irgendwie auch auf eine besondere Art schätze.“

Normalerweise ist mein Terminkalender im Ramadan so voll wie selten, da bereits zuvor Pläne gemacht wurden, wann und mit wem das Fasten gebrochen werden soll, was wir gerne kochen oder essen würden, bei wem wir als nächstes eingeladen sind… Ich muss zugeben, dass mir diese Dinge sehr fehlen. Mir fällt es schwer zu sehen, wie meine Großeltern jeden Iftar-Abend alleine verbringen und ich sie jedes Mal vor dem Beenden eines längeren Videoanrufs von den Gründen überzeugen muss, warum wir immer noch nicht zusammen essen können. Mir fällt es auch schwer, nicht an einem großen gedeckten Tisch mit 15 Menschen zu sitzen, wo in jeder Ecke ein anderes Gespräch geführt wird und wir uns gegenseitig dauernd ins Wort fallen. Das alles fällt mir schwer, doch ich muss auch sagen, dass ich den diesjährigen Ramadan irgendwie auch auf eine besondere Art schätze und im Gespräch mit vielen mitbekommen habe, dass sie es teilweise ebenso tun.

Mehr Empathie, Solidarität und Gemeinsamkeit – und zwar mit allen

Natürlich muss hier unbedingt angemerkt werden, dass nicht jede muslimische Person Bilderbuch-Ramadan-Monate verbringt. Für viele war es schon immer ein Monat der körperlichen Isolation, sei es aufgrund der Arbeit, des Wohnorts oder familiärer Probleme. Wie in jedem Bereich der momentanen Krise, empfinden Muslim*innen die jetzige Situation als mal mehr oder mal weniger gravierend. Muslim*innen in „systemrelevanten“ Jobs nehmen den Ramadan z.B. deutlich intensiver wahr als ich, die im Home-Office sitzt.

Einige können sich die Zeit zur Selbstreflexion nehmen, andere nicht. Einige sitzen mit ihren Großfamilien zusammen in einem Haus und empfinden dies als belastend, andere sehnen sich danach, bei ihren Liebsten zu sein. So divers, komplex und manchmal auch paradox wie wir als Muslim*innen eben sind, empfinden wir diesen Monat auch individuell und gehen dementsprechend damit um. Was aber nicht anders sein muss und nicht gebunden an die Tatsache ist, ob man jetzt fastet oder nicht oder jede Nacht zu sahūr aufsteht und Cornflakes isst oder nicht, ist diese Solidarität und Empathie, die wir so oft in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vermissen und die insbesondere im sogenannten Monat der Barmherzigkeit eine noch prägnantere Rolle spielen müssen.

„Ich hoffe, dass diese Zeit unserer Spiritualität trotz allem guttut.“

Ich hoffe, dass wir zu dieser Zeit in Gedanken und in unseren Gebeten beieinander sind und uns gegenseitig helfen, insbesondere denjenigen, die jetzt jeden Tag alleine ihr Fasten brechen. Ich hoffe, dass diese Zeit unserer Spiritualität trotz allem guttut und dass diejenigen, die es können, sich großzügig die Zeit für mehr spirituelle Erfahrungen nehmen. Ich hoffe, dass wir vielleicht trotzdem versuchen, Online-Iftarabende zu organisieren und unseren fastenden Mitmenschen so versuchen beizustehen.

„…gerade dieses Gefühl, das Teilen des Nicht-Teilens, spendet mir persönlich etwas Trost.“

Um mit meiner dritten Phase abzuschließen:  Es geht in diesem Monat ums Teilen, das wissen wir bereits alle. Betonen möchte ich aber, dass dies nicht nur das Teilen mit Muslim*innen ist, sondern mit allen denen, die diesen Moment mit uns gemeinsam verbringen möchten. Dieses Jahr haben wir so einiges vielleicht nicht teilen können, aber trotzdem haben wir mit vielen christlich und jüdisch geprägten Menschen geteilt, was es heißt, in einer Krisensituation nicht alleine zu sein, was es heißt, nicht gemeinsam an einem Tisch sitzen zu können. Und gerade dieses Gefühl, das Teilen des Nicht-Teilens, spendet mir persönlich etwas Trost, weil es mir auch die Hoffnung schenkt, dass wir nächstes Jahr an Ostern, Pessach und Ramadan oder Eid mehr Empathie füreinander haben, mehr Solidarität zeigen und diese Gemeinsamkeit umso mehr zelebrieren, weil wir jetzt eben genau wissen, wie es sich anfühlt, dieser entzogen zu sein.