Verschwörungsmythen und ihre Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt

Dies ist ein Gastbeitrag von Dr. Michael Blume. Blume ist Religionswissenschaftler, Beauftragter gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg und Alumnus des Deutsch-Israelischen Young Leaders Exchange der Bertelsmann-Stiftung. Mit seinem Podcast „Verschwörungsfragen“ klärt er derzeit ein großes Publikum über die lange Geschichte gefährlicher Verschwörungsmythen auf.

Die Coronakrise erschüttert unsere ganze Gesellschaft. Sie, mich, unsere Freunde, unsere Familien, unsere Nächsten – einfach alle. Viele von uns haben noch nie ein solches Ereignis erlebt, in welchem Selbstverständlichkeiten plötzlich nicht mehr möglich sind. Schulen sowie Kultureinrichtungen mussten geschlossen werden, man musste das liebgewonnene Treffen in Cafés und Restaurants lange Zeit aufgeben und die Maskenpflicht und der Sicherheitsabstand prägen auch heute noch das Stadtbild. Auch wenn es schrittweise immer mehr Lockerungen der Maßnahmen gibt: bei manchen Menschen hält die Verunsicherung an. Wir alle sind in der Pflicht dafür zu sorgen, dass diese Verunsicherung und verständlicher Frust im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen nicht als Nährboden für Verschwörungsmythen gedeihen, sondern in einem an Fakten orientierten demokratischen Diskurs aufgefangen und konstruktiv verarbeitet werden.

„Es ist verständlich, wenn sich Frustration anstaut und der Wunsch nach einer schnellen Lösung und Entspannung der Situation immer drängender wird.“

Wir erleben eine Situation, in der Eltern mit gleichzeitigem Homeoffice und Kinderbetreuung überfordert sind, oder Menschen ihre Angehörigen nicht im Pflegeheim besuchen können. Da ist es verständlich, wenn sich Frustration anstaut und der Wunsch nach einer schnellen Lösung und Entspannung der Situation immer drängender wird. Hier trifft die Pandemie unsere Gesellschaft spürbar.

Schön ist es gleichzeitigzu sehen, wie solidarisch sich viele Menschen zu Beginn der Krise gezeigt haben, als zum Beispiel Freiwillige Einkaufsdienste für diejenigen erledigten, die zu Risikogruppen zählen. Auch, dass sich Menschen an die bisweilen schwierigen Schutzmaßnahmen halten und darauf vertrauen, dass wir nur durch gemeinsames Handeln die Ausbreitung des Virus verhindern, stimmt mich zuversichtlich. Wir alle halten zusammen – aber eben ganz der Situation entsprechend: mit Abstand.

Nun gibt es aber auch eine Kehrseite dieser hoffnungsvollen Medaille. Schon seit Beginn der Corona-Pandemie erhoben sich Stimmen in sozialen Netzwerken und dem Internet, die unterschiedliche Behauptungen zum Ursprung des Virus aufstellten. Schon früh konnte man lesen, dass das Virus menschengemacht sei und als Biowaffe eingesetzt werden würde – entweder von China oder von den USA, je nachdem welchem aufgebrachten Kommentator man im Internet folgte.

Schnell schaukeln sich derlei Verschwörungsmythen hoch bis zu ihrem unweigerlichen Kulminationspunkt. So seien diffuse Mächte für den Ausbruch des Virus verantwortlich, die noch über den Nationen und Regierungen der Welt stünden. Diese oft als dunkel und böse gedachten Kräfte werden personifiziert und in Form ganz konkreter Schuldiger identifiziert, denen in der Art eines Sündenbocks Verantwortung für die Pandemie zugeschoben wird. Eines der bekanntesten Opfer einer Vielzahl dieser Feindzuschreibungen dürfte der Microsoft-Gründer Bill Gates sein. So wird er beschuldigt, das Virus entwickelt zu haben, um sich anschließend an einem Impfstoff bereichern zu wollen. Wieder andere gehen weiter und kolportieren, mit einer bevorstehenden Impfkampagne würde Gates sogar die Kontrolle über die Menschheit an sich reißen wollen.

„Verschwörungsgläubige sehen die Welt in absoluten Extremen“

Man mag sich an den Kopf fassen und fragen, wie es sein kann, dass Menschen solche Behauptungen aufstellen, die sich wie der Plot eher mäßiger Hollywoodfilme anhören. Und auch ich hatte anfangs noch gehofft, diese Menschen würden mit ihren Fantasien in ihren digitalen Filterblasen bleiben. Doch leider sehen wir seit einigen Wochen auf den sogenannten Hygiene-Demonstrationen immer wieder Menschen, die mit Plakaten oder Parolen eben jene Verschwörungsmythen verbreiten. Neben Gates werden auch Medien, Politik oder Wissenschaft im Allgemeinen zur Zielscheibe von kruden Behauptungen und Anfeindungen. Es stimmt mich traurig, dass sich Menschen von vermeintlich einfachen Erklärungen und Verschwörungserzählungen so leicht einfangen lassen und dann Stimmung machen gegen einzelne Personen oder sogar gegen ganze Berufsstände wie Journalisten, Politikerinnen oder Wissenschaftler. In solchen Behauptungen und Angriffen schwindet der gemeinsame Diskurs, die gemeinsame Auseinandersetzung und es bleibt nur noch die unangefochtene Schuldzuweisung. Denn Verschwörungsgläubige sehen die Welt in absoluten Extremen: auf der einen Seite die bösen dunklen Mächte, die im Hintergrund Pläne zum Schaden der Welt schmieden; auf der anderen Seite die Guten, die die vermeintliche Verschwörung enttarnt haben und Bescheid wissen. Diese festgefahrene Weltsicht lässt sich nur sehr schwer wieder öffnen.

„Immer wieder werden durch Verschwörungsgläubige demokratische Grundprinzipien in Frage gestellt“

Die Einteilung der Welt in gut und schlecht birgt eine direkte Gefahr für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn die Meinungen, die im Internet oder auf den angesprochenen Demonstrationen verbreitet werden, sind keineswegs harmlos. Verschwörungsgläubige stellen immer wieder demokratische Grundprinzipien in Frage und greifen damit unsere Gesellschaftsordnung insgesamt an. So wird durch das Anheften von Judensternen mit der Aufschrift „Ungeimpft“ nicht nur die realen Opfer des Holocaust verhöhnt, sondern der üble Rothschild-Verschwörungsmythos propagiert: Demnach hätten jüdische Verschwörer selbst den zweiten Weltkrieg und die Schoah herbeigeführt, um die Gründung des Staates Israel zu erzwingen. Der Holocaust wird also nicht mehr geleugnet, sondern in den Verschwörungsmythos eingebaut und antisemitisch gewendet. Damit wird der Zugang zur realen Geschichte, aber auch einfach zu menschlichem Anstand und Mitgefühl verbaut – die Antisemiten radikalisieren sich in einer dunkel fantasierten Opferrolle.

Anschläge wie die von Halle und Hanau oder der Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke zeigen, wie zerstörerisch Verschwörungsglaube letzten Endes werden kann. All diesen Attentaten lagen Ideologien zu Grunde, die eine vermeintliche Verschwörung von Politikern, Juden oder gar Frauen am Werk sahen. Dies zeigt, dass die Verbreitung von Verschwörungsmythen maßgeblich zu einer Form der Radikalisierung beitragen kann, die letztlich die Abschaffung unseres auf Freiheit und Gleichheit basierenden Gesellschaftssystems zum Ziel hat.

In der Zeit der Corona-Pandemie ist es nur verständlich, dass Menschen Bedenken gegen bestimmte Maßnahmen haben, die Freiheiten einschränken. Und viele Menschen möchten auch ihren Sorgen Luft machen und fordern zu Recht ein, dass die Politik ihre Entscheidungen erklären muss undin ihrer Begründung von  Maßnahmen transparent bleibt , möchte sie das Vertrauen der Bürger nicht verspielen.

„…neben den vielen besonnenen und demokratischen Demonstrierenden stehen auch Personen, die ihre Verschwörungserzählungen weitertragen und so unseren demokratischen Grundkonsens stören wollen.“

Doch leider passiert es, dass gut gemeinte Demonstrationen für Bürgerrechte in Zeiten von Corona gekapert werden. Denn neben den vielen besonnenen und demokratischen Demonstrierenden stehen auch Personen, die ihre Verschwörungserzählungen weitertragen und so unseren demokratischen Grundkonsens stören wollen. Wer im Internet oder auch auf Demonstrationen behauptet, dass das Corona-Virus von finsteren Verschwörern in die Welt gebracht wurde, um die Bevölkerung durch Impfungen zu versklaven, verlässt den Raum des rational Nachprüfbaren. Wer behauptet, Corona sei Teil einer satanistischen oder jüdischen Weltverschwörung, der lässt sich nur noch schwer von den rationalen, wissenschaftlich und journalistisch nachprüfbaren Fakten überzeugen. Verfechter solcher Mythen sind tief gefangen in rassistischen, antisemitischen und demokratiefeindlichen Welterklärungen. Diese Aussagen tragen nichts dazu bei, unsere Grundwerte zu verteidigen oder im respektvollen Umgang miteinander um den besten Weg in der Pandemie zu streiten. Dieser Verschwörungsglaube trägt vielmehr zur Spaltung der Gesellschaft bei. Er bedroht uns und unseren Zusammenhalt und kann im schlimmsten Fall einzelne Menschen so weit radikalisieren, dass diese Gewalt gegen andere anwenden.

„Die Verbreitung von Verschwörungsmythen stellt eine Gefahr für unsere demokratische Gesellschaft dar.“

Daher ist es für mich zentral, immer wieder darauf hinzuweisen: Die Verbreitung von Verschwörungsmythen stellt eine Gefahr für unsere demokratische Gesellschaft dar. Wir sollten uns von diesen negativen Mythen nicht einfangen lassen, die uns einfache Schuldige liefern wollen für eine komplexe Naturkatastrophe, wie es die Corona-Pandemie ist. Wir werden nicht gesund und erfolgreich aus dieser Zeit herausfinden, wenn wir die Schuld an der Lage der Welt einigen wenigen Menschen oder bestimmten Menschengruppen anlasten. Ich versuche in meinem Podcast „Verschwörungsfragen“ über diese gefährlichen Zusammenhänge aufzuklären und den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich schlau zu machen, um nicht selbst auf Verschwörungsmythen hereinzufallen – auch in der schwierigen Zeit der Pandemie.

„Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann gelingen, wenn wir uns dem Menschlichen widmen und den realen Problemen in unserer Gesellschaft, an deren Lösung wir gemeinsam arbeiten müssen.“

In dieser Zeit müssen wir vielmehr denjenigen zuhören, die durch die Folgen der Krise besonders hart getroffen wurden. Das sind überforderte Eltern, die eine Doppelbelastung durch Arbeit und Kinderbetreuung haben. Das sind die Kinder selbst, denen die feste Struktur der Schule fehlt und die nur noch selten mit ihren Freunden spielen können. Das sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Gastgewerbe, der Kultur und vielen anderen Bereichen, die durch Kurzarbeit schwer über die Runden kommen oder ihren Job ganz verloren haben. Das sind die Schwachen und Kranken, die keine Möglichkeit haben, von ihren Nächsten Trost zu erhalten. All jene müssen gehört werden. Diesen Menschen ist es wert zuzuhören und diese Menschen brauchen Beistand von ihren Nächsten und von der Politik. Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann gelingen, wenn wir uns dem Menschlichen widmen und den realen Problemen in unserer Gesellschaft, an deren Lösung wir gemeinsam arbeiten müssen. Verschwörungsmythen entfernen uns nur von unseren Mitmenschen und von unseren echten Problemen. Daher lautet mein Appell immer wieder: Lassen Sie uns gemeinsam, auf demokratischen Prinzipien und in Mitmenschlichkeit an der Verbesserung der Zustände arbeiten und lassen wir uns nicht von einfachen Schuldzuweisungen einfangen. So können wir gemeinsam diese schwierige Situation meistern und gestärkt und in Zuversicht einer Zeit nach Corona entgegenblicken.