Hat Religion in der Corona-Krise an Bedeutung verloren?

Über die Rolle der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften in der Corona Krise gehen die Meinungen derzeit stark auseinander. So hat die frühere Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht den Kirchen Versagen in der Corona-Krise vorgeworfen. „Die Kirche hat in dieser Zeit Hunderttausende Menschen allein gelassen“, kritisiert Lieberknecht in der Welt, „Kranke, Einsame, Alte, Sterbende.“ Der evangelische Theologe Ulrich Körtner meint im zeitzeichen-Magazin, die Corona-Krise sei ein „Lehrstück und Trigger für die Säkularisierung und Privatisierung von Religion in westlichen Gesellschaften“. Die Krise habe deutlich gemacht, dass Religion in unserer säkularen Gesellschaft nicht mehr „systemrelevant“ sei.

Das kann man auch anders sehen: Zum einen haben sich die christlichen Kirchen, die muslimischen Gemeinschaften und die jüdischen Gemeinden in der Krise als verlässliche Partner des Staates besonders verantwortlich gezeigt und die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus umgehend umgesetzt. Gleichzeitig fanden viele religiöse Gemeinden eigene, kreative Wege, wie Religion trotz der Einschränkungen gelebt werden kann. Zum anderen beschränkt sich Religion nicht allein auf Rituale wie den Gottesdienstbesuch. Gelebte Religion hat sehr vielfältige Ausdrucksformen, wie die Ergebnisse des Religionsmonitors immer wieder eindrucksvoll belegen.

Religion als bewährte Bewältigungsstrategie

Aktuelle Untersuchungen geben Hinweise, dass gerade die gelebte Religion und Religiosität in der Zeit der Kontaktbeschränkungen an Bedeutung gewonnen hat. So zeigt die kürzlich veröffentlichte Studie zu Bewältigungsstrategien in der Corona-Krise, dass die Frage nach Glaube und Sinnfindung den Menschen in Deutschland seit Beginn der COVID-19-Pandemie erkennbar wichtiger wurde. In der Untersuchung des auf tiefenpsychologische Kulturforschung spezialisierten rheingold Instituts berichtet beispielsweise eine muslimische Befragte, sie lese in der Krise jeden Tag einige Verse im Koran: „Ich befasse mich enger mit meiner Religion als jemals zuvor.“

Die Corona-Krise hat bei vielen Menschen ein großes Bedürfnis nach religiösen und quasi-religiösen Ritualen hervorgerufen. Ein Befragter meint, zwar könne man in der Krise nicht in die Kirche gehen, umso mehr versuche er dies aber regelmäßig zuhause auszugleichen, indem „ich mich auf mich selbst zurückziehe und meine Gedanken ordne“. Andere Befragte berichten, nun regelmäßig Yoga zu praktizieren. Wieder andere haben in der Krise den Wald als spirituellen Ort entdeckt. „Mein Wald ist mein perfekter Ort, um ganz bei mir und Gott zu sein“, sagte zum Beispiel eine Befragte. Auch das private Gebet haben viele religiöse Menschen für sich wiederentdeckt.

„Die Anzahl der Gebetssuchen auf Google stieg gegenüber dem Durchschnitt um mehr als 50 Prozent und übertraf selbst die Zahl der Suchanfragen an wichtigen religiösen Feiertagen.“

Jeanet Sinding Bentzen, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kopenhagen, hat festgestellt, dass Menschen weltweit noch nie so häufig auf Google nach Gebeten gesucht haben wie während der COVID-19-Pandemie im März 2020. Die Anzahl der Gebetssuchen auf Google stieg gegenüber dem Durchschnitt um mehr als 50 Prozent und übertraf selbst die Zahl der Suchanfragen an wichtigen religiösen Feiertagen. Dabei ist die Zunahme der Gebete nicht einfach ein Ersatz für während der Pandemie entfallene Gottesdienste, sondern lässt sich auf eine tatsächlich verstärkte Nachfrage nach gelebter Religion und einer neuen Wertschätzung religiöser Formen zurückführen.

Bentzen sieht in der Hinwendung zur Religion vor allem eine Bewältigungsstrategie, um mit Unsicherheit und Ängsten besser umgehen zu können. Aus der Forschung ist bekannt, dass negative Lebensereignisse und Lebenskrisen die Religiosität von Menschen steigern können. Auch Menschen, die Naturkatastrophen erlebt haben, bezeichnen sich hinterher oft als religiöser als zuvor. Im Unterschied zu problemorientierten Alltagsstrategien kommt der Religion das Potenzial zu, insbesondere in unvorhersehbaren und schicksalhaften Situationen Halt zu geben. Als sinnstiftende Ressource kann Religion Menschen helfen, Krisen besser durchzustehen und zu verarbeiten.

Religion in unserer Alltagssprache tief verankert

Religion vermittelt Sinn, insbesondere auch über eine eigene Sprache. Religiöse Sprache hilft, Phänomene in Worte zu fassen, mit denen unser alltägliches Vokabular überfordert ist. Dazu gehören existenzielle Erfahrungen wie Tod und Krankheit, aber auch positive Gefühlswelten, Sinnerfüllung oder Naturerfahrung. Selbst Menschen, die sich nicht als religiös bezeichnen, greifen auf religiöse Sprachbilder zurück, um außeralltäglichen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen – oft genug, ohne sich dessen bewusst zu sein: Wir tappen im Dunkeln. Es stehen einem die Haare zu Berge. Man fühlt sich mit Füßen getreten. Oder auch: wie ein Herz und eine Seele sein. Häufiger als wir ahnen, zitieren wir damit unbemerkt die Bibel.

Auch die Medien bedienen sich religiöser Metaphern und Symbole. Vor allem, wenn es darum geht, katastrophale Verwüstungen und das Leid der Opfer zu veranschaulichen. Ein Beispiel ist die Tsunami- und Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011, die als Apokalypse, Menetekel und Hölle beschrieben wurde. Ein anderes Beispiel ist der mediale Diskurs zum Klimawandel, in dem von Hiobsbotschaften und Schöpfungsverantwortung gesprochen wird. Es müssen aber nicht immer Katastrophen sein. Auch neue, häufig überraschende Forschungserkenntnisse, etwa in den Lebenswissenschaften, werden von den Medien nicht selten mit religiös aufgeladenen Metaphern vermittelt, wie eine Studie des ehemaligen Ethikrats-Vorsitzenden Peter Dabrock und seines Teams festgestellt hat. Wieder ist es das überraschende, das den gewohnten Horizont übersteigende oder die eigene Weltsicht erschütternde Moment, für das scheinbar unweigerlich religiöse Sprachbilder herangezogen werden.

„Man muss sich nicht als religiös bezeichnen, um anzuerkennen, dass unsere Kultur bis heute von Religion stark geprägt ist.“

In unserer Alltagssprache sind religiöse Begriffe und Wendungen bis heute allgegenwärtig. Man muss sich deshalb nicht als religiös bezeichnen, um anzuerkennen, dass unsere Kultur bis heute von Religion stark geprägt ist. Da, wo es um Transzendenzerfahrungen geht, greifen wir häufig auf religiöse Ressourcen zurück, ohne es überhaupt zu merken. Zum Beispiel sagt man „es ist ein Kreuz“, wenn man ein Schicksal meistern muss. Lassen sich Ereignisse nicht beeinflussen, stößt man ein „Gott bewahre“ aus. Oder aber man „schwebt im siebten Himmel“, wenn man verliebt ist. Und viele geben ihrer Erleichterung oder Überraschung mit einem „Halleluja“ Ausdruck.

Besonders in Zeiten wie der gegenwärtigen Corona-Pandemie wird häufig auf religiöse Sprachbilder zurückgegriffen. Denn gerade in Krisenzeiten wenden sich mehr Menschen religiösen Inhalten oder Praktiken zu, die Sicherheit, Sinn und Trost geben können. Und weil jede Gesellschaft auf einem historischen religiösen Unterbewusstsein gründet, drängen sich häufig selbst bei nicht religiösen Menschen religiöse Wendungen wieder in den Wortschatz hinein. Ein Bedeutungsverlust von Religion lässt sich deshalb bislang keineswegs ausmachen.