Forschung in Zeiten von Corona
Wie die Studie „30 Jahre deutsche Einheit – Gesellschaftlicher Zusammenhalt im vereinten Deutschland“ entstand
Dies ist ein Gastbeitrag von Jana Faus und Matthias Hartl. Jana Faus ist Diplom-Soziologin und Geschäftsführerin von pollytix. Matthias Hartl hat einen Master in Politischer Kommunikation und ist Senior Berater bei pollytix.
Am 7. September erscheint eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung zum Stand der Deutschen Einheit 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Ein klassisch sozialwissenschaftliches Thema mit einer spannenden Fragestellung: Gibt es etwas, das die 83 Millionen Deutschen verbindet? Außer dem Thema war an dieser Studie allerdings nichts klassisch. Von der ersten Idee bis zum fertigen Text dauerte die Durchführung dieser Studie 18 lange Monate, weil die Corona-Pandemie ordentlich dazwischenfunkte.
Außerdem wurde, für empirische Sozialforschung ungewöhnlich, der Forschungsprozess von Spiegel-TV für eine Dokumentation begleitet. Das Ergebnis dieser Fernsehbegleitung kann man am 9.9.2020 auf 3Sat sehen. Grund genug für uns, um hier einen kleinen Einblick in Genese und Durchführung der Studie zu geben. Wer sich an dieser Stelle eine Darstellung der Ergebnisse der Studie erhofft, braucht hier nicht weiterzulesen. In diesem Blogartikel nehmen wir Sie vielmehr mit auf unsere Forschungsreise quer durch Deutschland. Wir schildern, wie eine solche Studie eigentlich abläuft und wie durch Corona und ein TV-Team alles noch etwas komplizierter wurde, als es in der Sozialwissenschaft ohnehin schon üblich ist.
Die Idee zur Studie
Im Februar 2019 veröffentlichten wir unsere Studie „Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten?“ für die Otto-Brenner-Stiftung. Dafür haben wir mit jungen Menschen aus Ost- und Westdeutschland darüber gesprochen, was Ost und West heute noch für sie bedeutet. Wir, das ist pollytix, eine Agentur für forschungsbasierte Beratung aus Berlin. Unser Job ist es, die deutsche Gesellschaft zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Akteure zu beraten.
Im März 2019 twitterte Kai Unzicker von der Bertelsmann Stiftung zu unserer Studie: „Der #Osten fühlt #ostdeutsch? […] Hätte direkt noch ne Idee […] was man als nächstes untersuchen könnte. #Zusammenhalt“.
Seine Idee war es, den Diskurs über die deutsche Gesellschaft, der sich allzu häufig nur auf Trennendes, beispielsweise zwischen Ost und West fokussiert, durch einen anderen Ansatz zu ergänzen. Die Studie, die er uns vorschlug, sollte stattdessen nach dem Verbindenden zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen suchen. Die Leitfragen lauteten: Gibt es etwas, das Deutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zusammenhält? Gibt es einen gemeinsamen Nenner, auf den sich Westdeutsche, Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund einigen können? Und was ist eigentlich „deutsch“?
Auf Grundlage dieser Idee haben wir gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung ein Forschungskonzept entwickelt, das diese Fragestellung möglichst offen behandelt. In drei Stufen soll den genannten Fragen nachgegangen werden: Zunächst möglichst explorativ in Einzelinterviews. Dann in einer gemeinsamen Diskussion und abschließend in einer repräsentativen Befragung, um zu validieren, dass die Ergebnisse auch für Gesamtdeutschland gelten. In der Studie kombinieren wir also qualitative (es werden wenige Menschen sehr intensiv befragt) und quantitative (es werden sehr viele Menschen standardisiert befragt) Methoden, um ihre jeweiligen Vorteile zu kombinieren: ein tiefes Verständnis und repräsentative Aussagen.
Die Forschung beginnt: Tiefeninterviews bei den Menschen zu Hause
Qualitative Forschung beansprucht keine Repräsentativität. Dennoch wollen wir Aussagen treffen können, die über Einzelfallbeschreibungen hinausgehen. Entscheidend ist es daher immer, die „richtigen“ Menschen zu befragen. Für unsere Forschung bedeutete dies, dass wir zunächst einmal Menschen aus Ost und West sowie mit und ohne Migrationshintergrund in unsere Studie einbeziehen wollten. Außerdem wollten wir, dass sowohl Ältere, die während der deutschen Wiedervereinigung mitten im Leben standen, als auch Jüngere, die die Teilung nur aus Erzählungen kennen, in der Studie vertreten sind.
Im Herbst 2019 begeben sich die pollytix-Mitarbeiter:innen auf ihre Forschungsreise quer durch Deutschland. Von Rostock bis nach Nürnberg, von Essen bis Leipzig sind sie unterwegs, um mit den Teilnehmer:innen Tiefeninterviews durchzuführen. Das klingt glamouröser als es ist. In der Sozialforschung bedeutet eine solche Geschäftsreise nicht Jetset-Leben, sondern häufig stundenlanges Gondeln durch die deutsche Pampa, um Menschen auch in entlegeneren Winkeln Deutschlands zu besuchen. Man will ja nicht nur mit Großstädtern reden. Wenn man dann abends endlich in seiner Pension angelangt ist, folgt noch einmal der routinierte Griff zum Telefon, um mit dem Team die Erkenntnisse zu besprechen.
Die Analyse der Tiefeninterviews: mehr Fragen als Antworten
Zurück in Berlin wird das Material gesichtet, sortiert und ausgewertet. Dafür werden die Interviews zunächst transkribiert und anschließend mit der Analysesoftware MAXQDA codiert. Für jede:n Teilnehmer:in wird ein Steckbrief erstellt. Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Auffälligkeiten und Besonderheiten: All das wird im Team diskutiert. Erste Arbeitshypothesen entstehen (und werden wieder verworfen), viele offene Fragen bleiben. Aus diesen offenen Fragen wird das Konzept für die zweite Stufe geschärft: Die Erkenntnisse der ersten Stufe sollen nun mit den Teilnehmer:innen in sogenannten Fokusgruppen diskutiert werden.
Ein Filmteam klopft an
Als die Analyse bereits läuft, meldet sich Spiegel-TV bei der Bertelsmann Stiftung. Auch sie haben eine Idee. Sie würden die Studie sehr gern mit der Kamera begleiten und eine Fernsehdokumentation über das Forschungsprojekt drehen.
Für uns als Sozialforscher ist das ein zweischneidiges Schwert: Einerseits finden wir es begrüßenswert, dass Ergebnisse nicht nur eine interessierte Fachöffentlichkeit erreichen, sondern einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Andererseits erschwert es unsere Aufgabe: Wir wollen ja die Realität einfangen und müssen deshalb aufpassen, dass die Ergebnisse der Studie durch die Medienöffentlichkeit nicht verfälscht werden. Ebenso spielt Anonymität bei Interviews in der Sozialforschung eine wichtige Rolle, um sicherzustellen, dass Menschen das sagen, was sie wirklich denken. Wir mussten also sehen, wie wir diese beiden Ansätze unter einen Hut bekommen. Die Lösung bestand am Ende darin, dass ausgewählte Teilnehmer:innen zunächst wissenschaftlich befragt und erst anschließend vom Filmteam besucht werden.
Der Corona-Schock
Die zweite Stufe der Studie, die Diskussion in sogenannten Fokusgruppen, ist für Mitte März 2020 geplant. Die Räume sind gebucht, die Teilnehmer:innen eingeladen, doch dann schwappt die Corona-Pandemie nach Deutschland. Abstandhalten und Kontaktbeschränkungen sind das Gebot der Stunde. Persönliche Treffen in Gruppenstärke scheinen wie eine Idee aus einer anderen Zeit. Zwei Tage vor der ersten Fokusgruppe bleibt keine andere Wahl: Die Diskussionen müssen abgesagt werden. Während der Corona-Wirren im März steht kurzzeitig sogar die gesamte Studie auf der Kippe. Schließlich würde ohne die Diskussion der Ergebnisse ein wichtiger Teil fehlen. Zwar entsteht schnell die Idee, die Diskussionen online durchzuführen, allerdings ist unklar, ob die Teilnehmer:innen dafür die technische Ausrüstung haben. Schließlich zählt die eine Hälfte mit etwa 60 Jahren nicht gerade zu den „digital natives“. Auch das Konzept muss umgeschrieben werden. Statt Fokusgruppen werden Online-Communities und Videokonferenzen geplant. Teilnehmer:innen ohne entsprechende Ausstattung bekommen Tablets bereitgestellt. Teilweise müssen sie auch noch einmal besucht werden, weil sie Hilfe bei der technischen Einrichtung brauchen.
Mit etwas Verspätung und in einem anderen Format geht die Forschung weiter. Schnell wird uns aber klar, dass auch der Inhalt der Studie angepasst werden muss. Wir können in den Diskussionen mit den Teilnehmer:innen die Corona-Pandemie nicht einfach ignorieren. Wir entscheiden uns deshalb, Corona in den Forschungsprozess zu integrieren. Bald merken wir, dass hierin auch eine große Chance liegt. Ohne es vorher geplant zu haben, erleben wir hautnah mit, wie ganz normale Menschen in Deutschland einen dramatischen gesellschaftlichen Umbruch erleben. Wir können in den ersten zwei Aprilwochen intensiv mit den Teilnehmer:innen darüber diskutieren, was die Pandemie und insbesondere die Kontaktbeschränkungen aus ihrer Sicht mit der Gesellschaft macht.
Die quantitative Befragung
Im Juni 2020 befindet sich Deutschland zwar immer noch im Corona-Ausnahmezustand, langsam gewöhnt man sich aber an eine neue Normalität. Die letzte Stufe der Forschung findet deshalb wie geplant statt. Auch hier wird das Thema Corona aber thematisiert. Online befragen wir 1.581 Menschen aus ganz Deutschland. 779 davon leben in Westdeutschland, 802 in Ostdeutschland. Von den Befragten haben insgesamt 170 einen Migrationshintergrund. Zwar bleibt auch nach der Befragung noch viel Arbeit übrig– die Daten müssen gewichtet, analysiert und grafisch aufgearbeitet werden und auch den Berichtstext müssen wir noch schreiben – aber die Daten sind am 10. Juni erst einmal im Kasten. 50 Tiefeninterviews, elf Videokonferenzen, zwei Wochen Online-Community und 1.581 standardisierte Online-Interviews liegen nun hinter uns.
Sozialforschung in der Corona-Krise
Am 7. September erscheint nun endlich die Studie, für die wir uns 18 Monate lang mit Themen rund um den Zusammenhalt der Gesellschaft, den Zustand der deutschen Einheit und den Umgang mit gesellschaftlichen Umbrüchen beschäftigt haben. Die Corona-Krise hat uns dabei fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen zeigt sich aber auch in der Sozialforschung, dass Online-Verfahren nicht für alles, jedoch für vieles ein guter Ersatz sein können. Wie der folgende Ausschnitt aus einer unserer Videokonferenzen illustriert, ist uns der Spurwechsel von der analogen in die digitale Forschung zwar nicht immer stolperfrei gelungen, doch hat er letztlich zum Erfolg geführt:
Moderator: Wer hat noch eine Idee, was man machen könnte?
Frank: Hier, hier, Frank, Frank.
Moderator: Leg los.
Frank: Hörst du mich?
Moderator: Ja.
Frank: Hörst du mich?
Moderator: Jaa! Wir hören dich.
Frank: Hörst du mich?
Moderator: Ja, ich höre dich. Frank?
Frank: Hallo?
Nikita: Hallo, hallo, hallo, hallo.
Bruno: Matthias, der Frank will mit dir reden.
Moderator: Ja, danke, Bruno.
Angie: Ob du ihn hörst, hat er dich gefragt.
Frank: Hallo? Hörst du mich? Ihr sollt mich nicht unterdrücken.
Moderator: Ja, wir hören dich, aber du hörst uns nicht.