8 Thesen für eine demokratische Digitalisierung

Die Digitalisierung ist ein Megatrend unserer Zeit, der alle Lebensbereiche umfasst und quer über den Globus verläuft. Die technologischen Entwicklungen schreiten in atemberaubender Geschwindigkeit voran. Doch Digitalisierung ist kein Eilzug, der wahlweise an uns vorbei rast oder auf den wir noch rasch aufspringen, sondern ein Zug, der von uns selbst entwickelt und gesteuert werden kann. Die Digitalisierung ist gestaltbar. Sie sollte nach den Prinzipien unserer Demokratie gestaltet werden. Um das zu erreichen, müssen wir weniger die Technologien in den Mittelpunkt stellen, sondern die Bürger:innen selbst. Wie kann jeder Mensch selbst und die Zivilgesellschaft als organisierte Form der Bürgerschaft zu einer mündigen und prägenden Kraft in der Gestaltung einer demokratischen Digitalisierung gemacht werden?  Im Folgenden möchte ich acht Thesen als Antwort auf die Frage vorstellen, wie eine demokratische Digitalisierung funktionieren kann.

1. Es gibt keine technischen Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Technik ist kein Selbstzweck. Technische Lösungen können immer nur Bausteine einer gesellschaftlichen Bearbeitung und Aushandlung sein, nie aber das Ziel. Nicht-digitale Ansätze bei den Herausforderungen der Demokratie haben weiterhin eine hohe Relevanz. Anstelle eines technischen Solutionismus muss eine reflektiv-soziale Herangehensweise an gesellschaftliche Herausforderungen treten, die digitale Lösungsansätze mitdenkt, aber nicht priorisiert. Die Technikfolgenabschätzung sollte Bestandteil von Lösungsansätzen sein. Der Mensch und die Gesellschaft müssen stets im Mittelpunkt stehen.

2. Die Bürger:innen dürfen nicht nur mitgedacht”, “mitgenommen” und “abgeholt” werden, sondern müssen zu mündigen Akteur:innen gemacht werden.

Es fehlt an einem ausreichenden Maß mehrdimensionaler digitaler Kompetenzen und eines Verständnisses dafür, warum digitale Kompetenzen für die Demokratie relevant sind. Es sollte mehr über digitale Mündigkeit (digital literacies) gesprochen werden, als über technische Skills für den Arbeitsmarkt. Die Vermittlung relevanter Kompetenzen ist entweder auf rein technische Skills reduziert oder nur einer engagierten privilegierten Schicht im Bildungsbürgertum zugänglich. Schulische Formate sind sehr rar und oft nur möglich, wenn es im Einzelfall eine engagierte und interessierte Lehrkraft gibt, die dies aus eigenem Antrieb macht. Außerschulische Formate haben aktuell noch keine große Reichweite. Ein gutes Praxisbeispiel ist das außerschulische Format Jugend hackt, das einen ganzheitlichen medienpädagogischen Ansatz verfolgt (Motto: „Mit Code die Welt verbessern“) und Jugendliche dabei unterstützt, digitale Mündigkeit zu entwickeln (mit Hackathons, Communityarbeit und regelmäßigen Vorort-Angeboten). Allerdings ist dieses Format, wie auch andere, projekt- und spendenbasiert und damit nicht langfristig konzipiert.

3. Digitalisierung führt nicht automatisch zu mehr Vielfalt und Gleichberechtigung.

Die Herausforderung bei der Umsetzung von digitalen Möglichkeiten liegt auch darin, gleichberechtigte Zugänge zu schaffen und Programme immer wieder daran zu justieren, ob besonders auch benachteiligte Gruppen teilnehmen können. Marginalisierte Gruppen sollen darüber hinaus nicht nur als Adressat:innen für digitale Angebote erreicht werden, sondern auch eigene Akteur:innen der digitalen Partizipation werden. Am besten sollten unterrepräsentierte Gruppen in die Entwicklungsphase von digitalen Anwendungen bereits einbezogen werden. Dazu müssen sie als oftmals benachteiligte Gruppen in besonderer Weise gefördert werden.

4. Das Digitale Ehrenamt braucht mehr Sichtbarkeit und Anerkennung.

Das digitale Ehrenamt bewegt sich nach wie vor in einer Nische. Es ist definitorisch nicht klar umrissen und genießt kaum gesellschaftliche Anerkennung. Es findet am bzw. um den Computer herum statt und wird aktuell mehrheitlich von jüngeren Menschen ausgeübt. Es gibt bereits sehr viele gute Beispiele für digitales Engagement: Mentor:innen bei Hackathons, Entwickler:innen für nicht-profitorientierte Anwendungen (https://politik-bei-uns.de/; https://kleineAnfragen.de), Data Science for Good, Mozillas Sprach-Spende, Haushaltsvisualisierungen, Dokumentation von Barrierefreiheit. Das bundesweite Netzwerk Code for Germany vernetzt digitale Ehrenamtliche. Mehr Sichtbarkeit für dieses wichtige Engagement kann dazu beitragen, Begeisterung zu wecken und Ehrenamt zu stärken.

5. Die Digitale Zivilgesellschaft ist ein Motor für die demokratische Digitalisierung.

Viele Ideen für technische Innovationen für das Gemeinwesen stammen aus der Zivilgesellschaft. Das Potenzial ist gerade auf der kommunalen Ebene sehr groß, da die Herausforderungen des täglichen Lebens, wie etwa Mobilität, Daseinsvorsorge, Flächennutzung und Verteilung von Kitaplätzen, greifbar sind. Ideen für innovative Ansätze entstehen allerdings nur dann, wenn es eine Begegnung und einen Austausch zwischen Staat und Bürger:innen gibt. Die Zivilgesellschaft kann und sollte Brücke zum Staat sein, in dem sie sich in der Kommune organisiert und einen Austausch fördert, z.B. im Verschwörhaus Ulm oder dem HackerSpace Moers. Sie kann einfach mal machen und gute Beispiele für datenbasierte Innovationen für die Gesellschaft als Pilot entwickeln. Die Zivilgesellschaft kann digitale Kompetenzen in Labs, Programmen und Projekten vermitteln. Sie sollte aber auch als kritische Beobachterin für staatliche Aktivitäten auftreten und Missstände aufdecken, Intransparenz anmahnen und auf fehlende Repräsentation hinweisen (z.B. mit der Plattform https://fragdenstaat.de). Die Zivilgesellschaft sollte die digitale Zukunft durch Vision und Position voranbringen, indem sie Austausch und Vernetzung unterstützt (wie zum Beispiel mit dem Forum Offene Stadt).

6. Die demokratische Digitalisierung braucht die Unterstützung der entscheidenden politischen Ebenen.

Die Zivilgesellschaft hat eine starke Rolle, aber ohne den politischen Willen der obersten Entscheidungsebenen des jeweiligen föderalen Systems werden Ansätze nicht skalierbar und nachhaltig sein. Deutschland ist immer noch ein Flickenteppich mit unglaublich vielen, spannenden einzelnen Initiativen, die aber entweder nur lokal existieren, prekär finanziert sind, oder nicht miteinander kompatibel sind. Auch in Barcelona, dem Paradebeispiel für eine demokratische Digitalisierung, begann der Prozess erst Fahrt aufzunehmen, als die Bürgermeisterin dieses Anliegen zur Chefsache machte und es top-down implementierte.

7. Wir brauchen mehr Orte der Begegnung.

Die menschliche Begegnung und der Austausch, besonders zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Meinung, ist ein Lebenselixier der Demokratie und Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt. In ihrer Funktion als gesellschaftliche Zwischenräume des Austausches nehmen u.a. Bibliotheken und Museen zunehmend eine Vorreiterrolle im Zeichen digitaler Bildung ein. Spaß am Lesen, Kreativität, Medienkompetenz und das Entdecken gesellschaftspolitischer Themen stehen in Mitmach-Formaten im Fokus. Auch hier kann noch weiter entwickelt und erforscht werden, welche Technologien und Bezugsgebiete eine stärkere Diversifizierung der Nutzer:innen dieser Angebote zur Folge haben. Als wegweisende Beispiele werden oft die Bibliothek von Helsinki (Oodi) und das DOKK1 in Aarhus (Dänemark) genannt. Hamburg plant in den kommenden Jahren ein „Haus der Digitalen Welt“ nach Vorbild von Oodi. Besonders wichtig ist auch, solche Orte nicht nur in städtischen Kontexten zu schaffen, sondern auch in ländlichen Räumen. In der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenberg gibt es zum Beispiel einen stillgelegten Bahnhof, der unter dem Namen “Verstehbahnhof” ein solcher Ort ist und sich besonders an junge Menschen richtet.

8. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Die globale Vordenkerin Francesca Bria spricht von einem digital social contract. Wir müssen uns nicht nur auf Werte verständigen, wie soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, informationelle Selbstbestimmung, freier Informationszugang, Nachhaltigkeit, sondern auch daraus Handlungen in Deutschland und auf europäischer Ebene ableiten. Dazu sollten gehören, persönliche Daten zu schützen, öffentliche Daten zugänglich zu machen, die Abhängigkeit von großen Tech-Firmen zu reduzieren, die digitale Souveränität mit open source Lösungen zu fördern, eine freie Internetsuche zu ermöglichen, gegen Hatespeech und diskriminierende Algorithmen konsequent vorzugehen. Hierzu kann die Zivilgesellschaft eigene Visionen entwickeln, den Dialog fördern und gute Praxisbeispiele sichtbar machen.

Technologie muss an menschlichen und demokratischen Bedürfnissen ausgerichtet werden. Im Zentrum muss die Befähigung jedes einzelnen Menschen zur digitalen Mündigkeit stehen. Die Digitale Zivilgesellschaft ist eine starke Partnerin, um diese Befähigung auf den Weg zu bringen. Nur so wird es gelingen, eine demokratische Digitalisierung zu gestalten.