Coronakratie

Am Dienstag, den 10. März 2020, konnte man schon eine erste Ahnung davon bekommen, was die folgenden 365 Tage so bringen sollten. Am Tag zuvor waren weltweit die Börsenkurse eingebrochen, an der Wall Street war der Handel ausgesetzt. Der damalige italienische Ministerpräsident Conte hatte sein ganzes Land bereits zur Sperrzone erklärt und in Deutschland wurde man sich, angesichts der beiden ersten Todesopfer, langsam des Ernstes der Lage bewusst. Die Bundesliga diskutierte über Geisterspiele und der Gesundheitsminister konnte sich zu diesem Zeitpunkt flächendeckende Schulschließungen noch nicht vorstellen.

Heute, ein Jahr später, ist allen bewusst, welche Spuren das Corona-Virus weltweit, auch in Deutschland hinterlassen hat. Von Beginn an haben nicht nur Virologen und Epidemiologen die Entwicklung genau in den Blick genommen, sondern auch Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker haben beobachtet, wie die Krise sich entfaltet und welche Auswirkungen sie auf Gesellschaft und Politik hat. Wir selbst haben beispielsweise unsere Studien  zum gesellschaftlichen Zusammenhalt darauf ausgerichtet und für das Jahr 2020 gleich drei große Telefonumfragen durchgeführt.

Auch die Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte, Martin Florack und Julia Schwanholz von der NRW School of Governance an der Universität Duisburg Essen haben bereits in der Mitte des Jahres ein ambitioniertes Publikationsprojekt gestartet. Unter dem Titel „Coronakratie – Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten“ haben sie schon ab Mitte des Jahres Beiträge für einen Konzeptband zusammengetragen: Politikwissenschaftliche, soziologische, rechtswissenschaftliche, geschichtswissenschaftliche und praxisorientierte Momentaufnahmen, die der Frage nachgehen, wie belastbar und widerstandsfähig Demokratien in Ausnahmezuständen sind.

Die drei Herausgeber sehen in diesen interdisziplinären Momentaufnahmen vor allem Denkanstöße und Anregungen zum Weiterdenken und Weiterforschen. Dabei sind sich alle drei der Vorläufigkeit der Diagnosen und Schlüsse bewusst, weshalb sie auch von „informierter Spekulation“ sprechen.

Neben den Texten von Korte, Florack und Schwanholz finden sich auch Beiträge unter anderem von Peter Graf Kilmansegg, Claudia Landwehr, Peter Dausend, Ursula Weidenfeld oder von Gert Scobel. Was mich besonders freut und ehrt ist, dass ich auch einen der Beiträge beisteuern durfte –  „Gesellschaftlicher Zusammenhalt unter Pandemiebedingungen: Schub für Solidarität, Treiber von Ungleichheit“.

Wissenschaftliche Publikationen brauchen in der Regel Zeit, die einem in der Krise jedoch fehlt. Bewundernswerterweise ist der Band aber sehr rasch fertiggestellt und veröffentlicht worden, aber dennoch zeigt sich in der Pandemie, wie schnell Ergebnisse und Erkenntnisse von tagesaktuellen Entwicklungen überholt werden können. In meinem Beitrag steht beispielsweise, sogar schon recht vorsichtig formuliert: „Sollte Deutschland also auch weiterhin im Vergleich zu anderen Staaten erfolgreich durch die Krise gelangen, mag die Erfahrung dieser Zeit zu einem neuen positiveren Selbstbild führen, das die Widerstandskräfte der Gesellschaft, aber auch die demokratischen Institutionen stärkt.“

Angesichts aktueller Nachrichten von schleppend anlaufenden Impfungen, bürokratischem Krisenmanagement und unseriösen Geldgeschäften bei der Maskenbeschaffung, scheint die Zeit eines besonders guten Bildes, das Deutschland in der Pandemie abgibt, vorerst vorbei zu sein (bei der volatilen Lage kann auch das schon bald wieder Geschichte sein, wer weiß).

Gerade weil die Lage so dynamisch ist und die mittel- bis langfristigen Folgen so schwer vorherzusehen sind, ist eine begleitende Reflektion umso wichtiger. Vorsichtig vorantastend, bisweilen spekulierend, lassen sich die Entwicklungen interpretieren und womöglich Trends in die Zukunft vorzeichnen. Der Band liefert hierzu analytisch scharfe und für die gesellschaftliche Praxis relevante Erkenntnisse. Womöglich zeichnet sich tatsächlich bereits jetzt eine neue demokratische Normalität ab?

Eine ausführliche Rezension des Bandes gibt es im Portal für Politikwissenschaft