Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie: Droht jetzt die Spaltung der Gesellschaft?
Hat sich der Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie verändert?
Mehr als ein Jahr Corona-Pandemie liegt nun hinter uns. Die dritte Infektionswelle rollt. Trotz Impfungen und Tests ist aktuell noch nicht abzusehen, wann wir in Deutschland die Krise hinter uns gelassen haben werden. Über die neusten Zahlen zu den gesundheitlichen Folgen der Pandemie berichtet die Presse täglich. Die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt sind spürbar. Aber was machen die Monate im Ausnahmezustand, zwischen Lockdown und Lockerungen, mit uns als Gesellschaft insgesamt? Wie verändert die Pandemie die Gesellschaft? Wie steht es um den Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie? Seit mehreren Jahren untersuchen wir hier bei der Bertelsmann Stiftung den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im vergangenen Jahr 2020 haben wir deshalb genauer hingeschaut, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Gesellschaft hat.
Ein glücklicher Zufall: Eine Studie zum Zusammenhalt zum richtigen Zeitpunkt
Dass wir heute über interessante Daten zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Corona-Zeit verfügen, ist zunächst einmal einem Zufall geschuldet. 2020 sollte ganz regulär unsere nächste repräsentative Studie zum Zusammenhalt in Deutschland stattfinden. Als wir am 5. Februar mit der Befragung begannen, war uns aber noch gar nicht klar, dass wir kurz vor einer Jahrhundertkrise standen. 3.000 Telefoninterviews sollten geführt werden. Rund die Hälfte davon fanden statt, bevor sich in Deutschland die Pandemie voll entfaltete. Die zweite Hälfte, ab dem 3. März, fand dann schon unter dem Eindruck der Krise statt. Bereits im Vergleich der Antworten vor und nach dem 3. März konnten wir erste Effekte der Pandemie erkennen. Aber spätestens Ende März war allen Beteiligten klar, dass diese Krise nicht in ein paar Wochen vorbei ist und so planten wir direkt eine Wiederholungsbefragung für den Sommer ein.
Dreimal haben wir im Jahr 2020 die gleichen Personen zum Zusammenhalt befragt
Von den 3.000 repräsentativ befragten Personen aus dem Februar und März haben sich rund 1.000 bereit erklärt, uns ein zweites Mal im Mai und Juni Auskunft zu geben. Die Ergebnisse dieser ersten beiden Befragungen veröffentlichten wir im August. Unser Fazit war damals vorsichtig verhalten, angesichts eines durchaus robusten Zusammenhalts. Es zeigten sich aber schon erste Haarrisse in der Gesellschaft: Menschen mit geringer Bildung, niedrigem ökonomischem Status und Migrationshintergrund erlebten damals schon einen geringeren Zusammenhalt als der Durchschnitt. Ebenso litten Alleinlebende und Alleinerziehende besonders unter der Pandemie. Als dann im Herbst die Infektionszahlen wieder stiegen, entschieden wir uns, eine dritte Befragungsrunde zu starten. Im Dezember konnten wir 611 Personen ein drittes Mal telefonisch interviewen. Somit liegen uns für diese letztgenannten 611 Befragten Daten vom Jahresbeginn, aus dem Sommer und vom Jahresende vor. Für unsere aktuelle Studie haben wir die Antworten dieser Befragten zugrunde gelegt.
Der Zusammenhalt ist zunächst gestärkt, wird dann schwächer, bleibt jedoch insgesamt stabil
Nachbarschaftshilfe für Risikogruppen, ein Vertrauensboom für die Bundesregierung und große Einigkeit bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie waren für die ersten Monate der Krise prägend. Als dann im Sommer 2020 die erste Infektionswelle abklang und wir im Mai und Juni die zweite Befragung durchführten, zeigte sich, dass sich der gesellschaftliche Zusammenhalt im ersten Halbjahr 2020 insgesamt bewährt hatte. Einige Werte waren sogar leicht angestiegen. Zum Jahresende hin ist aber von diesem Anstieg kaum mehr etwas übrig. Wenn wir die Antworten aus dem Februar und März mit denen aus dem Dezember vergleichen, so liegen diese – im Mittel über alle sozialen Gruppen hinweg – sehr nah beieinander. Wir können also mit Fug und Recht sagen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Summe im Jahr 2020 etwa gleichgeblieben ist.
Corona lässt die Unterschiede in der Gesellschaft zunehmen
Aber selbst, wenn auf den ersten Blick der Zusammenhalt in der Pandemie im Jahr 2020 stabil war, so zeigt sich bei genauerem Hinschauen, dass die Unterschiede in der Gesellschaft größer geworden sind. Wir haben uns die Daten vor allem einmal differenziert nach Haushaltseinkommen und Bildungsgrad sowie einer Kombination aus beiden Faktoren angeschaut. Hier zeigt sich beispielsweise, dass Befragte in prekären sozialen Lebenslagen die Solidarität in der Gesellschaft gleichbleibend negativ bewerten, während Befragte aus der Mitte oder aus gehobenen sozialen Lagen, hier einen positiven Trend verzeichnen. Vielleicht steckt schon hierin der entscheidende Befund unserer Studie zum Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie: Während an der Oberfläche, im Durchschnitt, die Gesellschaft robust erscheint, so vergrößern sich unter der Oberfläche, zwischen den einzelnen sozialen Gruppen, die Unterschiede.
Das Funktionieren der Demokratie wird in der Krise unterschiedlich bewertet
Ähnlich verlaufen die Trennungslinien auch bei der Demokratiezufriedenheit und dem Vertrauen in die Bundesregierung. In den beiden oberen Bildungsgruppen steigt die Demokratiezufriedenheit zunächst bis zum Sommer an und sinkt dann zum Jahresende wieder ab. Der letzte Wert liegt aber höher als zu Jahresbeginn. In der unteren Bildungsgruppe nimmt die Demokratiezufriedenheit im Jahresverlauf kontinuierlich ab. Am Ende sind die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen im Hinblick auf die Zufriedenheit mit der Demokratie in der Krise größer geworden.
Die Zukunftssorgen wachsen
Was unsere Zahlen auch zeigen ist, dass sich in allen Bevölkerungsteilen die Zukunftsaussichten eintrüben. Im Sommer und zum Jahresende haben wir die Teilnehmer:innen an unserer Studie nach ihren Zukunftsaussichten gefragt. Bereits im Sommer war bei denen in einer prekären sozialen Lebenslage die Stimmung mies: 38 Prozent sagten, sie machen sich große Sorgen um ihre Zukunft. Am Jahresende sind es mehr als die Hälfte, die das sagen (56 Prozent). Aber auch in der gesellschaftlichen Mitte und am oberen Rand der sozialen Leiter haben die Sorgen zugenommen.
Junge Leute unter 30 Jahren besonders stark betroffen
Wir haben uns die Zukunftssorgen auch einmal nach dem Alter aufgeschlüsselt angeschaut und dabei festgestellt, dass gut zwei Drittel der unter 30 jährigen große Zukunftssorgen haben. Das sind mehr als in jeder anderen Altersgruppe. Außerdem ist unter den jungen Leuten das Gefühl von Einsamkeit besonders stark verbreitet. 71 Prozent unserer Befragten unter 30 Jahre sagten, dass sie sich einsam fühlen würden. Auch dies ist der höchste Wert unter allen Altersgruppen. Dies alles passt auch gut zu den Ergebnissen einer Jugendstudie, die Kolleg:innen von mir im letzten Jahr durchgeführt haben. Diese hat gezeigt, dass junge Menschen in der Corona-Zeit verstärkt über psychische Probleme, Vereinsamung und Zukunftsängsten leiden. Bedeutet das aber im Umkehrschluss, dass die jungen Leute auch die Maßnahmen zur Pandemie besonders kritisch sehen? Nein, ganz im Gegenteil: Im Dezember 2020 war der Anteil derjenigen, die die Maßnahmen für angemessen halten, unter den jüngeren Befragten am höchsten.
Droht nun die Spaltung der Gesellschaft?
Ich bin ja, wie ich letztens einmal ausführlich erklärt habe, in Sachen Zusammenhalt ein Optimist – das gilt auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie. Im Vergleich zu anderen Ländern, wie beispielsweise den USA oder auch Großbritannien, ist die gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland eher schwach ausgeprägt. Aber in der Krise haben sich die Unterschiede und Problemlagen verschärft, die vorher schon vorhanden waren. Die Perspektiven auf die Gesellschaft, die in den unterschiedlichen sozialen Lagen existieren, gehen weiter auseinander. Während die einen in der Krise eine Chance entdecken, ist sie für andere eine kaum zu überwindende Herausforderung. Deshalb ist es entscheidend, die ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie auch langfristig zu bekämpfen. Vor allem für diejenigen, die sich bereits vorher in einer schwierigen Lebenslage befunden haben. Wenn uns das gelingt, dann können wir vielleicht sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen.
Die vollständige Studie lässt sich hier kostenlos herunterladen