Hört uns zu! Eine Botschaft der Jugend an die Politik
73 Prozent der Jugendlichen sagen, die Politik habe während der Pandemie nicht genug für sie getan.
Während der letzten zwei Jahre dominierten hauptsächlich zwei Bilder von Jugendlichen in den Medien: auf der einen Seite die unsolidarischen, Party machenden Regelbrecher:innen und auf der anderen die armen, Lernstoff verpassenden Schüler:innen. Diese simplen Schablonen werden aber den Jugendlichen und ihren Bedürfnissen nicht gerecht. Es braucht eine differenziertere Betrachtung: Wo liegen die wirklichen Anliegen der jungen Menschen, die von der Politik angepackt werden müssen? Dass die Politik die Jugend wieder in den Blick nehmen muss, ist dringend überfällig. Die überwiegende Mehrheit der 16 bis 24-Jährigen, die wir in einer aktuellen Studie befragt haben, ist der Meinung, die Politik habe während der Corona-Pandemie nicht genug für sie getan.
“Wir haben uns nicht gehört gefühlt.“ Mit dieser Aussage beklagen viele Jugendliche ihre Lage in der Corona Pandemie. Die Pandemie hat alle Bevölkerungsgruppen hart getroffen. Um viele von ihnen hat sich die Politik gekümmert, hat versucht Lösungen zu finden und zu unterstützen. Aber die Flut an Problemen, die von einer völlig neuen, uns allen unbekannten Krisensituation verursacht wurde, konnte nicht vollständig aufgefangen werden. Doch jetzt hatte die Politik genügend Zeit sich an die Lage zu gewöhnen. Nun kann der allgemeine Schaden erfasst werden, um die Auffangschirme und -netze, die in unserem Sozialstaat schon seit langer Zeit den hilfsbedürftigen Menschen zugutekommen, nicht nur wiederherzustellen, sondern sie sogar zu verbessern.
Jetzt geht’s ums Zuhören!
In unserer neuen Studie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Baden-Württemberg 2022 haben wir als Bertelsmann Stiftung ein besonderes Augenmerk auf die Lage der Jugendlichen in der Pandemie gelegt. Wir ermitteln, wie sich der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Situation der Jugendlichen während der Pandemie verändert haben. Dazu wurden von Dezember 2021 bis Januar 2022 insgesamt 2.716 Personen (ab 16 Jahre) in Baden-Württemberg online befragt. Ganz allgemein zeige sich, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Baden-Württemberg deutlich zurückgegangen ist. Der von uns berechnete Gesamtindex sank von 2019 bis jetzt um 10 Punkte von 64 auf 54 Punkte (auf einer Skala von 0-100). Und vermutlich gilt dieser negative Trend nicht allein für Baden-Württemberg, sondern lässt sich auf ganz Deutschland übertragen, wie eine weitere Umfrage aus dem Februar 2022 zeigt.
Blickt man auf die letzten zwei Jahre – mit allen Einschränkungen, Schutzmaßnahmen und dem Lockdown – zurück, so steht außer Frage, dass diese Zeit quer durch die Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen hat. Die Jugendlichen hat die Pandemie jedoch besonders getroffen. Private Treffen mit Freund:innen waren lange Zeit stark eingeschränkt und auch der Kontakt zu Gleichaltrigen über die Schule, den Ausbildungsplatz oder die Universität fiel durch den Online-Unterricht zum größten Teil weg. Doch dieser Bereich war nur ein Teil des Problems: Besonders in den Phasen, in denen es in Deutschland umfangreiche Kontaktbeschränkungen gab, gab es keine Freizeitaktivitäten, wie beispielsweise Sport im Verein, und Unterstützungsangebote für Jugendliche. Für einige Aktivitäten und Angebote konnten digitale Alternativen gefunden werden. So fand zum Beispiel die Nachhilfe für viele Schüler:innen online per Videokonferenz statt.
Doch die digitalen Alternativen konnten den persönlichen Kontakt zum Freundeskreis und zu Bekannten nicht vollständig ersetzen.
Damit fiel eine wichtige stützende Säule im Alltag der Kinder und Jugendlichen weg: Viele von ihnen waren mit allen aufkommenden Problemen und Sorgen auf sich gestellt, da ein großer Teil des alltäglichen Austauschs nicht stattfinden konnte. So verwundert es nicht, dass unsere Studie belegt, dass ganz besonders die Jugendlichen in der Corona-Pandemie stark belastet waren: Bei den Fragen zu den psychoemotionalen Belastungen schnitten sie im Vergleich zu den anderen Altersgruppen überdurchschnittlich schlecht ab. Ganze 47 Prozent der 16- bis 24-Jährigen fühlten sich oft, beziehungsweise immer, müde und erschöpft. Bei den älteren Befragten waren es 29 Prozent. Auch gaben 40 Prozent der Jugendlichen an (im Gegensatz zu 18 Prozent der Älteren) häufig mit Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen. Nervosität und Angst nahmen ebenfalls zu.
Besonders in diesem Bereich sind demnach dringend Hilfsangebote nötig, die derzeit nicht zur Genüge vorhanden sind. In Deutschland besteht schon seit mehreren Jahren ein großer Mangel an Therapieplätzen. Die Flut von neuen Hilfsbedürftigen kann die ungenügende Infrastruktur gar nicht mehr auffangen. Hier muss die Politik nun ansetzen und ein zusätzliches und besseres Angebot schaffen.
„Wir sollten gefragt werden, nicht irgendwelche alten Menschen.“
Unsere Zahlen bestätigen auch die Ergebnisse der Studie „Fragt uns 2.0 – Corona-Edition 2021“, in der vor allem die Jugendlichen selbst zu Wort kommen (alle Zitate von Jugendlichen in diesem Blogpost stammen von dort). Sie erzählen, wie sie die Pandemie erlebt haben und mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben:
„Vor der Pandemie war alles schöner und jetzt kann ich kaum noch meine Freunde sehen und keine neuen Leute kennenlernen, das macht mich und andere traurig. Aber ich sehe ein, dass die gefährdeten Menschen geschützt werden müssen. Psychisch bin ich sehr viel labiler geworden.“
„An sich geht es mir gut, aber ich merke stark, wie viele Freizeitangebote und Ausgleichmöglichkeiten vom Alltag durch Corona wegfallen … Ich habe dadurch und durch das Homeoffice auch oft das Gefühl, sehr isoliert zu sein.“
„Ich habe das Gefühl seit der Pandemie psychisch instabiler geworden zu sein, da ich kaum bis keine sozialen Kontakte mehr habe und einem alles weggenommen wird was einem lieb war.“
Ein weiterer Handlungsbereich scheint sich für die Politik auch in der Förderung von Freizeitaktivitäten zu bieten. Die Angebote für Jugendliche können nach zwei langen Jahren der Corona-Pandemie mit den neuen Lockerungen der Schutzmaßnahmen jetzt wieder zum größten Teil stattfinden. Ein Blick auf die Kommentare der Jugendlichen zeigt auch hier die Wichtigkeit auf: Sie wünschen sich ein gutes Freizeit- und Unterstützungsangebot und sehen in dem Stillstand der letzten zwei Jahre unter anderem den Grund für ihre Isolation und die psychoemotionalen Belastungen.
Unsere Studie zeigt auf, dass momentan Unterstützungs- sowie Freizeitangebote und Ansprechpartner:innen für Jugendliche fehlen. Besonders in ländlichen Regionen ist ein solches Netzwerk oft nicht gegeben. Nur rund ein Drittel der Befragten empfinden die Angebote als ausreichend. Großstädte fallen hier mit einem guten Angebot (beispielsweise an Treffpunkten) für Jugendliche positiv auf. Von der Politik sollte nun eine flächendeckende Verteilung von Angeboten und Ansprechpartner:innen angestrebt werden, um noch mehr Jugendliche zu erreichen und so zu unterstützen.
Wie muss es jetzt weitergehen?
Über die Hälfte der Jugendlichen sind der Meinung, die Politik habe die Corona-Pandemie nicht gut gehandhabt und sogar mehr als zwei Drittel von ihnen finden, ihre Bedürfnisse seien nicht genügend berücksichtigt worden. In diesen eindeutigen Zahlen steckt der Appell der jungen Generation an die Politik: Fragt uns! Hört uns zu! Und handelt dementsprechend!