Wir sind solidarischer als wir denken – und Religionen tragen dazu bei*
Im Frühjahr 2024 liegen das christliche Ostern, das jüdische Pessachfest und der muslimische Fastenmonat Ramadan wieder einmal nah beieinander. Diese zeitliche Nähe erinnert daran, dass Religionen weiterhin unsere säkulare Gesellschaft prägen – und zwar vielstimmig. Die Feste der drei Weltreligionen stehen auf ihre jeweils eigene Weise für individuelle Einkehr und tradierte Rituale, aber auch für die Pflege von Gemeinschaft, den Ruf nach Gerechtigkeit und die Solidarität mit Schwächeren.
So verteilen im Ramadan viele Moscheegemeinden nach Sonnenuntergang Essen an Bedürftige. Im Judentum, das an Pessach der Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft gedenkt, ist es Tradition, zu diesem Anlass Geld für die Armen zu sammeln. Die beiden großen christlichen Volkskirchen schließlich unterstützen mit ihren vorösterlichen Fasten- und Spendenaktionen Hilfsprojekte in aller Welt. Sie laden dazu ein, im Verzicht den Blick zu weiten für das, was sonst leicht übersehen und nicht wertgeschätzt wird.
Doch diese Hilfsbereitschaft bleibt nicht auf die Kirchen, Moscheen, Synagogen begrenzt. Die Solidarität in unserer Gesellschaft wird von religiösen Menschen vorgelebt und gestärkt. Das zeigt jetzt unsere neue Studie des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung.
In unserem Auftrag haben drei Wissenschaftler:innen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Dr. Ulf Tranow, Prof. Dr. Annette Schnabel und Marcel Müke – vor allem auf zwei Faktoren geschaut: die Spendenbereitschaft und das freiwillige soziale Engagement. Das Ergebnis: Wir sind solidarischer, als wir denken! Unsere Gesellschaft verfügt über stabile Solidaritätsressourcen und ist weit hilfsbereiter, als es uns aktuelle Debatten über ein soziales Auseinanderdriften und ein Zerbrechen des Zusammenhalts glauben machen.
Der Glaube fördert solidarisches Verhalten
Dabei wirkt Religion als einer der wichtigsten positiven Faktoren. Man kann sagen: Der Glaube fördert solidarisches Verhalten.
So ist unter religiös gebundenen Menschen die Bereitschaft zu spenden deutlich ausgeprägter als unter religiös Ungebundenen. 71 Prozent der christlichen und 69 Prozent der muslimischen Befragten sagen, dass sie im Jahr 2022 für wohltätige Zwecke gespendet haben; bei den Menschen ohne Glaubenszugehörigkeit waren es »nur« 59 Prozent.
Auch beim freiwilligen Engagement zeigt sich ein positiver Effekt von Religiosität: Während sich unter den Konfessionslosen lediglich 17 Prozent ehrenamtlich engagieren, sind es unter den religiös Gebundenen mit 31 Prozent nahezu doppelt so viele.
Die Wahrscheinlichkeit eines freiwilligen Engagements ist selbst dann höher, wenn eine Person heute zwar konfessionslos ist, aber religiös erzogen wurde. Religiöse Erziehung ist also ein Faktor, der positiv nachhallt. Offenbar ein Leben lang.
Aber genügt das? Der Religionsmonitor zeigt auch, dass solidarisches Verhalten Räume braucht, um sich zu entfalten. Religiöse Gemeinden bieten niedrigschwellig und ganz selbstverständlich die Möglichkeit, sich sozial zu engagieren. Sie leben eine solidarische Grundhaltung vor, die durch Glaubensüberzeugungen gefördert wird. Mit anderen Worten: Menschen, die in religiöse Gemeinschaften eingebunden sind und beispielsweise regelmäßig zum Gottesdienst gehen, finden leicht Gelegenheit zu helfen.
Doch bei dieser Hilfsbereitschaft kommt es offenbar nicht darauf an, ob die Helfer die Hilfsbedürftigen persönlich kennen. Ihre Solidarität ist mehr als Hilfe innerhalb der Gemeinde. Sie reicht weit darüber hinaus. So dient Religion als Brücke zwischen unterschiedlichen Gruppen.
Religion ist nicht die einzige Ressource für Solidarität
Klar ist aber auch: Religion ist nicht die einzige Ressource für Solidarität. Auch jene Deutschen, die nicht religiös sozialisiert sind, zeigen ein starkes solidarisches Verhalten – insbesondere in Krisensituationen. Das beweisen zahlreiche Beispiele aus jüngster Zeit. So schränkten in der Corona-Pandemie jüngere, gesunde Menschen ihren Alltag ein, um vulnerable und ältere Personen zu schützen. Viele Freiwillige eilten nach der Flutkatastrophe im Ahrtal dorthin, um anzupacken. Und als ein Erdbeben große Regionen im Südosten der Türkei sowie im Nordwesten Syriens in Schutt und Asche legte, kamen Rettungstrupps aus der ganzen Welt – auch aus Deutschland.
Neben solchen Formen aktiver Hilfe vor Ort gibt es hierzulande Millionen Menschen und auch Unternehmen, die im Notfall Geld spenden oder Hilfspakete packen. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine versorgten Tausende Deutsche die Geflüchteten, nahmen sie sogar zu Hause auf. All das zeigt: Der Wille zu helfen ist stark. Die Solidaritätsmechanismen sind intakt.
Und noch etwas anderes belegt der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung: nämlich die Motive und Haltungen hinter der Hilfsbereitschaft.
Für die meisten Menschen in Deutschland ist es selbstverständlich, zu helfen, wenn andere in Not sind. Dabei machen sie keinen großen Unterschied, ob es sich um Opfer einer Flutkatastrophe im eigenen Land handelt oder um Opfer eines Erdbebens in weiter Ferne.
Im Falle einer Flutkatastrophe in Deutschland würden 73 Prozent der Bevölkerung spenden, im Falle eines Erdbebens in einem Entwicklungsland immerhin 63 Prozent. Auch hier zeigt sich, dass religiöse Menschen hilfsbereiter sind als nicht religiöse. Die Spendenbereitschaft der Religiösen liegt bei dem genannten Beispiel fast zehn Prozent über dem Gesamtdurchschnitt, die der Nichtreligiösen deutlich unter dem Durchschnitt. Dennoch bleibt das Fazit positiv. Eine große Mehrheit der Deutschen ist bereit, Geld zu spenden, wenn eine Hilfsorganisation darum bittet. Tatsächlich spendeten im Jahr 2022 zwei Drittel der Bevölkerung für wohltätige Zwecke. 72 Prozent gaben Geld, 57 Prozent spendeten Kleidung, 21 Prozent Spielzeug und Kinderbücher, 11 Prozent Weihnachtspäckchen.
Wir sind als Gesellschaft besser, als wir denken
Die Deutschen halten zusammen – auch in einer Zeit, in der antisemitische und antimuslimische Übergriffe zunehmen. So sind die meisten Bürger bereit, Geflüchtete zu unterstützen, unabhängig davon, ob sie aus der Ukraine oder aus Syrien stammen. Der Studie zufolge wollen insgesamt 73 Prozent geflüchteten Syrern helfen und insgesamt 79 Prozent geflüchteten Ukrainern. Allerdings fällt auf, dass die Helfer besonders gern jene unterstützen, die ihnen kulturell nahestehen. 82 Prozent der Christen würden gern Ukrainern helfen, 88 Prozent der Muslime gern Syrern.
Das sind insgesamt gute Nachrichten in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft. Wie wichtig es ist, diese positive Realität sichtbar zu machen, unterstreicht ein Befund aus der Sozialforschung. Von dem amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas wissen wir: Wer davon ausgeht, dass er sich auf die Solidarität anderer verlassen kann, handelt selbst eher solidarisch. Wer dagegen auf die Hilfe anderer nicht vertraut, weigert sich eher, anderen zu helfen.
So liefert die Studie auch eine alarmierende Zahl: Trotz der weitverbreiteten Hilfsbereitschaft in Deutschland, hat fast die Hälfte der Bürger, 48 Prozent, wenig Vertrauen in ihre Mitmenschen. 55 Prozent glauben, wer Rücksicht auf andere nimmt, zieht den Kürzeren. Was folgt daraus? Vielleicht dies: Medien und Politik sollten stärker thematisieren, was im Land gut läuft, statt nur das Negative hervorzuheben.
Auf das zwischenmenschliche Vertrauen kommt es an
Religion kann dabei helfen. Denn sie stärkt das zwischenmenschliche Vertrauen – wenn etwa Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten in derselben Gemeinde zusammenkommen und die Erfahrung machen: Uns verbindet mehr, als uns trennt. Wichtig für solidarisches Verhalten ist zudem die Erfahrung, dass einem selbst im Alltag und in der Krise geholfen wird, egal ob durch den Staat oder das soziale Umfeld. Insgesamt berichten 75 Prozent der Deutschen, dass ihnen schon einmal geholfen wurde. Und 67 Prozent glauben, dass sich Arme und in Not Geratene hierzulande auf Unterstützung verlassen können.
Wie passt dazu das pessimistische Menschenbild vieler Deutscher? Vielleicht so: Mehr Menschen vertrauen auf den Sozialstaat und die Zivilgesellschaft als auf einzelne Mitmenschen. Sozialvertrauen kann allerdings nachhaltig beschädigt werden, etwa durch die Erfahrung von Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Das zeigt sich wiederum im solidarischen Handeln. Von den Menschen mit einem geringen sozialen Vertrauen würden nur 40 Prozent für wohltätige Zwecke spenden, während von den Menschen mit einem großen sozialen Vertrauen etwa drei Viertel, 76 Prozent, zu helfen bereit sind. Auffällig ist das deutlich geringere soziale Vertrauen in der muslimischen Bevölkerung, was sich aus ihrer Benachteiligung erklären könnte: Je häufiger Musliminnen und Muslime Diskriminierung erleben, desto größer ihr Misstrauen.
Akzeptanz und Anerkennung wecken Solidaritätspotenziale
Umgekehrt folgt daraus: Akzeptanz und Anerkennung wecken Solidaritätspotenziale. Ein positives Beispiel ist die Ramadan-Beleuchtung, die Frankfurt am Main als erste deutsche Großstadt eingeführt hat, Köln hat bereits nachgezogen. Die Lichter symbolisieren: Muslime sind selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Das religiöse Leben von Minderheiten stärker sichtbar zu machen, kann zu mehr Akzeptanz beitragen. Auch in Bezug auf das Judentum gibt es Nachholbedarf. 84 Prozent der Deutschen wissen nach eigenen Angaben kaum etwas über jüdisches Leben hierzulande. Ihm mehr Raum zu geben, ist in der aktuellen Lage, in der viele Jüdinnen und Juden um ihre Sicherheit fürchten, besonders wichtig.
Was folgt noch aus dem Religionsmonitor? Vor allem dies: Religion stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die neue Studie zeigt:
Auch in einer Zeit, in der Religion scheinbar an Bedeutung verliert, kann sie zu einer besseren Gemeinwohlorientierung beitragen und Brücken zwischen Menschen bauen.
Dies ist aber kein Automatismus. Die religiösen Solidaritätspotenziale zu schützen – mehr noch: sie zu fördern –, ist eine große Aufgabe. Dabei können die Religionsgemeinschaften selbst, aber auch Politik und Zivilgesellschaft helfen. Das bewährte deutsche Kooperationsmodell zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bietet einen geeigneten Rahmen und ist mit Blick auf den Islam relevanter denn je.
Es mangelt an Wissen über die Hilfsinitiativen religiöser Akteure
Je mehr Menschen ohne direkten Kontakt zu Religionen aufwachsen, desto mehr sind religiöse Akteure gefordert, proaktiv zu handeln und ihre Initiativen für das Gemeinwohl bekannt zu machen. Um Wirkung zu entfalten, sollten sich Gemeinden gezielt öffnen. Dies betrifft auch religiöse Minderheiten, über die viele Menschen kaum etwas wissen. Interreligiöse Gruppen können Hilfen bündeln und auf mehrere Schultern verteilen, vor allem aber gegenseitige Vorbehalte abbauen. Kirchen und ihre Hilfsorganisationen sind national wie international besonders stark vernetzt, deshalb können sie rasch eingreifen, wo Hilfe nottut. Politiker und Kommunen sollten das bedenken – und alle Religionen stärker einbinden. Ein schönes Beispiel dafür sind die Vesperkirchen, die sich von Baden-Württemberg aus in mehrere Bundesländer ausgebreitet haben: Hier öffnen Kirchen in der kalten Jahreszeit ihre Türen für Bedürftige und Einsame, bieten ihnen Essen, Begegnung und spirituelle Impulse. Organisiert wird das Ganze von Freiwilligen aus allen Schichten und Glaubensrichtungen. Noch handeln die öffentlichen Debatten über Religion – und insbesondere über den Islam – meist von Problemen. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen nicht mehr religiös gebunden sind, verstärkt dies noch die Ressentiments gegenüber bestimmten religiösen Gruppen und gegenüber Religion im Allgemeinen.
Gelungene Beispiele für Religiosität und erfolgreiche (inter-)religiöse Initiativen müssen stärker sichtbar werden, damit negative Stereotype über Religion aufbrechen. Neue, positive Bilder helfen nicht nur, antidemokratischen Bestrebungen entgegenzuwirken, sondern auch den Zusammenhalt in der Demokratie zu stärken. Die Solidarität in unserer Gesellschaft ist noch immer stark. Wir können etwas tun, damit das so bleibt.
*Der Beitrag ist zuerst am 20.3.2024 auf Zeit online unter dem Titel „Wie solidarisch sind wir?“ erschienen.