Gespalten oder nicht gespalten, das ist hier die Frage

Verführerische Bilder der Spaltung

Die Bilder sind verführerisch: „Die Gesellschaft ist gespalten“ liest man und schon tut sich vor dem inneren Auge eine tiefe, unüberwindbare Schlucht auf, die die Menschen im Land in zwei Lager teilt. Ist von „Filterblasen“ die Rede, liegt es nahe, an geschlossene Räume voll mit Gleichgesinnten zu denken, in die kaum auch nur eine andere Meinung oder ein irritierender Fakt eindringen kann. Ob die Gesellschaft tatsächlich polarisiert, fragmentiert oder gar tief gespalten ist, lässt sich aber gar nicht so einfach beurteilen. Zwei wissenschaftliche Publikationen aus diesem Jahr illustrieren dies anschaulich.  

Keine eindeutige Lagerbildung in den Arenen der Ungleichheitskonflikte 

Eine Forschergruppe um den Berliner Soziologen Steffen Mau hat jüngst im Berliner Journal für Soziologie Ergebnisse veröffentlicht, nach denen es mit der Lagerbildung in der deutschen Gesellschaft nicht ganz so weit her ist.  Nur beim Thema Migration stellten sie eine polarisierte Meinung fest. Bei den beiden anderen von ihnen untersuchten Themen soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Vielfalt „gibt es wenig Hinweise auf eine klare Lagerbildung, wie sie in der Literatur und der öffentlichen Diskussion oft unterstellt wird.“  

Gesellschaft zwischen „Entdeckern“ und „Verteidigern“  

Am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster wurde indes dieses Jahr mit großem medialen Echo eine Studie veröffentlicht, die deutlich mehr Spaltung sieht. Hier wird für die Bevölkerung in vier europäischen Ländern eine spürbare Lagerbildung diagnostiziert: Auf der einen Seite die von ihnen sogenannten „Entdecker“, die sich selbst gut repräsentiert fühlen und keine Angst vor Fremden haben. Auf der anderen Seite die „Verteidiger“, die unzufrieden mit der Demokratie sind, sich an den Rand gedrängt fühlen und in Fremden vor allem eine Bedrohung sehen. Wobei erwähnt werden sollte, dass sich über 60 Prozent der Deutschen keinem der beiden Lager zuordnen lassen. Aber, was stimmt denn nun? Ist die Gesellschaft gespalten oder nicht? Werfen wir einen Blick auf unsere eigenen Forschungsergebnisse. 

Überraschend viel Einigkeit bei Klima, Gerechtigkeit und sogar Vielfalt 

Im August haben wir eine eigene Studie veröffentlicht, in der wir uns die Meinungen in der Bevölkerung zu den Themen Klima, Gerechtigkeit und Vielfalt sowie zum Umgang mit der Corona-Pandemie genauer angeschaut haben. Dazu teilten wir die Befragten in sieben Wertemilieus ein (mehr dazu hier) und deren jeweilige Perspektiven näher untersucht. Dabei kam Bemerkenswertes heraus: Obwohl über die Corona-Maßnahmen teils heftig gestritten wurde, fanden sich grundlegende Gemeinsamkeiten. Beim Thema Klima zeigte sich, dass es eine breite Veränderungsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung gibt. Ebenso herrschte überraschend große Einigkeit im Hinblick auf die Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, bei der Untersuchung der Zustimmung zu unterschiedlichen Gerechtigkeitsprinzipien, wie beispielsweise Gleichheit, Leistungs- oder Bedarfsgerechtigkeit. Selbst beim Dauerstreitthema Vielfalt ist die grundsätzliche Zustimmung groß. 48 Prozent sind offen für ein breites Vielfaltsverständnis und weitere 40 Prozent teilen ein eingeschränktes Vielfaltsverständnis. Gerade mal 2 Prozent lehnen Vielfalt gänzlich ab. Es bestätigt sich aber auch, was die anderen oben angesprochenen Studien bereits angedeutet haben: Rund um Fragen von Migration und Zugehörigkeit gibt es, wenn man in die Details geht, das größte Potential für Uneinigkeit und Polarisierung. Dennoch spricht erstmal viel dafür, dass die Gesellschaft, trotz zahlreicher Unterschiede und Konfliktthemen, bei weitem nicht so gespalten oder polarisiert ist, wie dies häufig behauptet wird.  

Die öffentliche Debatte ist rauer geworden 

Dass man unterschiedliche Meinungen vertritt und sogar heftig streitet, muss aber kein Grund zur Sorge sein. Vielmehr gehören Auseinandersetzungen zu einer pluralen Demokratie notwendigerweise dazu. Uneinigkeit per se ist deshalb erstmal kein Problem. Hart in der Sache und fair im menschlichen Umgang, so lässt sich auch über kontroverse Themen diskutieren. Schwierig wird es aber dann, wenn dieser Streit nicht stattfindet, weil man gar nicht mehr miteinander ins Gespräch kommen kann. Wenn die andere Positionen verteufelt und die Debatten mit unfairen Mitteln geführt werden. Daher wollten wir von unseren Befragten auch wissen, wie sie die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen in der Öffentlichkeit einschätzen. Hier zeigte sich ein trübes Bild: 68 Prozent der Befragten sagten, dass in Fernsehen, Zeitungen und den sozialen Medien die Diskussionen in diesem Jahr respektloser geworden sind. Das Klima in der Debatte ist rauer und unfreundlicher geworden. Die Gefahr besteht, dass diese Form der öffentlichen Auseinandersetzungen – wie gerade auch im jüngst zu Ende gegangenen Bundestagswahlkampf erlebt – weiter zunimmt und schließlich doch zu unüberbrückbaren Konflikten führt. 

Balkendiagramm: Sieben Wertemilieus und ihre Beurteilung der Diskussionen in der Öffentlichkeit und im persönlichen Umfeld

Ganz anders ist die Situation im persönlichen Umfeld 

Der öffentliche Diskurs ist das eine, die privaten Diskussionen das andere. Wir wollten daher von unseren Befragten auch wissen, wie sie die Diskussionen in ihrem persönlichen Umfeld mit Freund:innen und Bekannten einschätzen. Hier zeigte sich ein gänzlich anderes Bild. Während die öffentlichen Debatten überwiegend als zunehmend respektlos beschrieben werden, sagt eine große Mehrheit von 73 Prozent, dass die Diskussionen im eigenen Umfeld genauso respektvoll sind wie früher. Dazu passt auch ein Befund aus einer weiteren Studie von uns: In den letzten Jahren ist der Anteil derjenigen, die den Eindruck haben, im Alltag mit Respekt behandelt zu werden, keineswegs gesunken, sondern sogar von 2017 bis 2020 von 74 Prozent auf 79 Prozent angestiegen. Es mag für Verwunderung sorgen, aber die Gereiztheit der öffentlichen Debatte scheint, wenn überhaupt, nur zum Teil Niederschlag im Alltagsleben der Bevölkerung zu finden.  

Bereitschaft zum Dialog vorhanden 

Aber wollen die Menschen in Deutschland überhaupt miteinander sprechen? Versuchen sie nicht vielmehr anderen Meinungen aus dem Weg zu gehen? Unstrittig ist wohl: Eine offene Diskussionskultur und die Fähigkeit, Konflikte auszutragen, sind wichtige Bausteine für einen starken Zusammenhalt in der Gesellschaft. Umso erfreuter waren wir, als wir in unseren Ergebnissen gesehen haben, dass ein großer Teil der Befragten offen und bereit ist, sich auch aktiv mit denjenigen auseinanderzusetzen, die anderer Meinung sind. Über 40 Prozent sucht sogar extra den Kontakt zu Personen mit anderen Ansichten oder diskutiert gern unterschiedliche Positionen. Weitere 36 Prozent haben eine Position der Toleranz und akzeptieren die anderen Meinungen und Haltungen. Gerade einmal 17 Prozent empfinden unterschiedliche Positionen als unangenehm und versuchen die Auseinandersetzung darüber zu vermeiden. Die Voraussetzungen für eine produktive demokratische Diskussionskultur sind also gar nicht so schlecht, vor allem, weil sich überdies gezeigt hat, dass die persönlichen Umfelder bei weitem nicht so homogen sind, wie dies häufig befürchtet wird. 

Das Zusammenleben in einer pluralen Demokratie ist anstrengend und es muss gestaltet werden 

Die gesellschaftliche Spaltung ist in Deutschland, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, noch nicht Realität. Der teils aufgeheizte öffentliche Diskurs gibt aber schon mal einen Vorgeschmack davon, was passieren könnte. Auch zeigen die Beispiele anderer Länder, dass die Gefahr einer Bruchlinie, die sich im Alltag durch die Bevölkerung zieht, durchaus real ist. Die Voraussetzungen dies zu verhindern sind aber gut: Die Haltungen der Menschen im Land im Hinblick auf Vielfalt, Klima, Gerechtigkeit oder auch Corona weisen, zumindest grundsätzlich, überraschend große Übereinstimmungen auf. Die Erfahrungen, die die Menschen im Alltag machen, sind positiver, als es nach der Betrachtung des medialen Diskurses den Eindruck macht. Die persönlichen Netzwerke sind in der Regel vielfältiger, als man häufig denkt. Das Fundament für einen stabilen Zusammenhalt in einer pluralen Gesellschaft ist also solide. Aber nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Es gibt, und zwar zunehmend, unterschiedliche Interessen und Lebensvorstellungen, Konflikte werden nicht verschwinden und es wird, gerade bei den konkreten Detailregelungen des Zusammenlebens, immer schwieriger, Einmütigkeit zu erzielen. Dennoch sind die Voraussetzungen für einen starken Zusammenhalt in der deutschen Gesellschaft gut. In Zukunft werden wir aber vermutlich mehr Energie aufwenden müssen, um die Debattenkultur zu pflegen, den Dialog anzuregen und die wechselseitige Verständigung zu ermöglichen.