Kunst kennt keinen Shutdown!

Über die Lage freischaffender Künstler:innen in der Corona-Krise und was Stiftungen gemeinsam bewirken können

Dies ist ein Gastbeitrag von Ilka von Bodungen, der stellvertretenden Geschäftsführerin der Hamburgischen Kulturstiftung. Sie ist dort zudem verantwortlich für den Projektbereich Junge Kunst und Kultur sowie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Am 11. März 2020 traf ich nach dem Besuch einer Theaterpremiere in der Internationalen Kulturfabrik Kampnagel auf die junge südafrikanisch-hamburgische Choreografin Jessica Nupen. Ihre Rap-Tanz-Oper »The Nose« sollte in der Woche darauf Premiere feiern – »wenn nicht alles zumachen muss«, wie sie sagte. Am 14. März stellten in Hamburg auf behördliche Verfügung zur Eindämmung der Corona-Pandemie alle kulturellen Einrichtungen und Bibliotheken ihren öffentlichen Betrieb ein. Jessica Nupen und ihr 45-köpfiges Team waren zu einer Vollbremsung gezwungen – nach zweijähriger Vorbereitungszeit, am Anfang der finalen Proben mit gerade aus Südafrika angereisten Tänzer:innen nur wenige Tage vor der Premiere.

Von 100 auf 0 – Der Shutdown als existenzielle Bedrohung für Künstler:innen

Kampnagel zeigt Hamburger und internationale Produktionen der freien Szene. Diese ist das Kernfördergebiet der Hamburgischen Kulturstiftung: Mit unserer Projektförderung unterstützen wir junge freischaffende Künstler:innen aller Sparten, die fernab von festen Engagements und Institutionen ihre künstlerischen Vorhaben eigenständig auf die Beine stellen – von der künstlerischen Idee über die Mitteleinwerbung bis zur Besetzung und gesamten Organisation – oder in solchen freien Produktionen mitarbeiten. Das durchschnittliche Jahreseinkommen freischaffender Künstler:innen in Deutschland bezifferte die Künstlersozialkasse 2019 auf 17.852 Euro brutto. Die detaillierten Zahlen zeigen zum einen deutliche Unterschiede zwischen den Sparten und zum anderen, dass das Einkommen vor allem bei Berufseinsteiger:innen und Frauen unter dem Durchschnitt liegt. Das macht es für viele von ihnen so gut wie unmöglich, Rücklagen zu schaffen, um Einkommensausfälle abzufedern. Der Shutdown bedeutete für sie eine existenzielle Bedrohung, zumal gerade Künstler:innen mit sehr niedrigem Einkommen ihren Lebensunterhalt nur durch Nebenjobs, z. B. in der Kulturvermittlung oder in der Gastronomie, finanzieren können, die ebenfalls wegfielen.

Verlässlich fördern und flexibel auf akute Bedarfe reagieren

Für uns waren in dieser Situation zwei Dinge sofort klar:

  • Wir stehen zu unseren Förderzusagen – unabhängig davon, ob und in welcher Form das Vorhaben umgesetzt werden kann.

Insofern war es für uns selbstverständlich, als eine der ersten Stiftungen den Aufruf »Stiftungsengagement im Zeichen der Corona-Krise« des Arbeitskreises der Förderstiftungen beim Bundesverband Deutscher Stiftungen zu unterzeichnen. 105 Stiftungen bekennen sich darin zu ihrer Verantwortung, den Förderpartner:innen in dieser Ausnahmesituation unter anderem durch die Einhaltung von Förderzusagen zur Seite zu stehen.

  • Wir müssen – über unsere Förderprojekte hinaus – den freischaffenden Künstler:innen in Hamburg schnell und unbürokratisch helfen.

Seit mehr als 30 Jahren ist die Hamburgische Kulturstiftung der jungen Kulturszene in Hamburg eine verlässliche Partnerin und sieht es dabei als ihren Auftrag, mit der Förderung flexibel auf akute Bedarfe zu reagieren. So startete sie zum Beispiel 2011, als Künstler:innen aufgrund von Raumnot und teuren Mieten scharenweise aus Hamburg abzuwandern drohten, den zweijährigen Förderschwerpunkt »Platz da! Räume für die Kunst!« zur Unterstützung von Mieten für Ateliers und Probenräume. 2016 rief die Stiftung den ebenfalls zweijährigen »FREIRÄUME! Fonds für kulturelle Projekte mit Geflüchteten« ins Leben, der inzwischen als »FREIRÄUME« Initiative für kulturelle Integration« fortgesetzt wird. 2019 richteten wir einen Fokus auf die Bildende Kunst, um zu besseren Arbeitsbedingungen für junge Künstler:innen in diesem Bereich beizutragen und deren Schaffen sichtbarer zu machen.

Kunst kennt keinen Shutdown: Künstlerische Arbeit ermöglichen statt Almosen verteilen

Und nun Corona. Was war der akute Bedarf von Künstler:innen in dieser nie dagewesenen Situation? Bei aller Not war es uns wichtig, dezidiert künstlerische Arbeit und Honorare zu fördern. Zum einen sieht unsere Satzung als gemeinnützige Stiftung eine rein mildtätige Förderung von Menschen in Not nicht vor. Zum anderen hätte diese aber auch dem Selbstverständnis der Künstler:innen widersprochen, die ja liebend gerne weitergearbeitet hätten. In einem Interview mit dem Spiegel im Juli zitiert Hamburgs Kultursenator Dr. Carsten Brosda, was viele Kunstschaffende auf den Verweis auf die staatliche Grundsicherung erwidert hätten: »Ich bin ja gar nicht erwerbslos, ich habe nur kein Einkommen.« Die Aussage entspricht dem Anliegen und Titel unseres Hilfsfonds »Kunst kennt keinen Shutdown«. Durch eine unkomplizierte, zügige Förderung wollten wir Kunstschaffenden ermöglichen, weiter künstlerisch zu arbeiten, neue Formate auszuprobieren, ihre Kunst zu zeigen und sich dafür ein entsprechendes Honorar zu zahlen. Damit war der Hilfsfonds ausdrücklich nicht als Alternative, sondern als zusätzliche Fördermöglichkeit zu den öffentlichen Programmen wie der Soforthilfe für Solo-Selbstständige und der »Neustart-Prämie« der Freien und Hansestadt Hamburg gedacht.

Von 0 auf 400.000 auf 750.000 Euro – Solidaritätswelle für Kunstschaffende in Hamburg

Der Bedarf war eruiert. Nun fehlten noch die Mittel. Als Stiftung mit einem verhältnismäßig niedrigen Kapital von 8 Millionen Euro (inkl. Treuhandstiftungen) und entsprechend geringen Erträgen wirbt die Hamburgische Kulturstiftung ihre Fördermittel durch Spenden immer wieder neu ein. Für den Hilfsfonds konnten wir nach ersten Gesprächen des Vorstands mit anderen Stiftungen und Förder:innen binnen einer Woche eine Spendensumme von 400.000 Euro vermelden. Eine große Berichterstattung im Hamburger Abendblatt* verhalf dem Fonds zu weiterer Aufmerksamkeit. Bis zum 23. September 2020 kamen mehr als 760.000 Euro zusammen. Das verdanken wir großen Stiftungen und Unternehmen ebenso wie Bürger:innen, die sich mit großen und kleinen Spenden eingebracht haben. Darunter waren übrigens auch Kunstschaffende selbst, wie z. B. die Mitglieder der drei großen, öffentlich geförderten Orchester (NDR Elbphilharmonie Orchester, Philharmonisches Staatsorchester und Symphoniker Hamburg), die als festangestellte Musiker:innen ihren freischaffenden Kolleg:innen zur Seite stehen wollten (siehe Liste der Unterstützer:innen).

Diese Welle der Solidarität war in ihrer Breite und in ihrem Umfang eine bewegende Erfahrung.

Und sie wurde auch von den Geförderten als solche wahrgenommen. So schrieb eine Künstlerin: »Mein Dank gilt auch allen Stiftern und all den Menschen, die mit Rat, Tat und finanziellen Mitteln die Kulturschaffenden in dieser schweren Zeit unterstützen. Dieser gesellschaftliche Zusammenhalt macht für uns Künstler einen großen Unterschied.« Aus dem kürzlich veröffentlichten »Radar für gesellschaftlichen Zusammenhalt 2020« der Bertelsmann Stiftung geht hervor, dass die Menschen in Deutschland den gesellschaftlichen Zusammenhalt nach dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie positiver als zu Beginn des Jahres bewerten. Der Frage, inwiefern der wachsende Zusammenhalt die Corona-Krise überdauern wird, ging Die ZEIT nach. Die Autor:innen des Artikels »Solidarität ist ansteckend« (Die ZEIT vom 2. September 2020) beschreiben das Phänomen, dass das Spendenaufkommen bei konkreten, sehr fassbaren Problemlagen rapide steige, sich aber mit sinkendem Druck auch wieder abnutze. Diese Erfahrung wird vermutlich jede Einrichtung, die Fundraising betreibt, bestätigen.

Solidarität ist keine Eintagsfliege: Starkes Signal für die Zusammenarbeit von Stiftungen

Doch für uns geht der Erfolg des Hilfsfonds über die Erkenntnis hinaus, dass sich in Krisenzeiten besonders gut Spenden sammeln lassen. Er ist auch ein starkes Signal für die Zusammenarbeit von Stiftungen, die für das Wirken der Hamburgischen Kulturstiftung seit vielen Jahren eine unverzichtbare und wachsende Säule ist. Im Jahr 2019 haben wir knapp ein Viertel unserer zugesagten Fördermittel im Rahmen von Kooperationen akquiriert. In den meisten Fällen setzen Stiftungen auf unsere Expertise und überlassen uns Mittel für die Förderung von Projekten, die im Interesse beider Partner:innen liegen – zum Beispiel, weil sie selbst bundesweit agieren, weil sie selbst schwerpunktmäßig operativ arbeiten oder keine Einzelkünstlerförderung betreiben. »Kunst kennt keinen Shutdown« wäre nicht in dieser Größenordnung möglich gewesen ohne die großzügige Beteiligung der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S., der Claussen-Simon-Stiftung, der Körber-Stiftung, der Rudolf Augstein Stiftung, der ZEIT-Stiftung und vieler weiterer kleiner Stiftungen. Der Großteil von ihnen hatte sich bereits 2016 und 2017 bei unserem temporären Fonds »FREIRÄUME!« für kulturelle Projekte mit Geflüchteten eingebracht. Einige unterstützen bis heute unsere gleichnamige Initiative für kulturelle Integrationsprojekte. Auf diese langjährige gute Zusammenarbeit konnten wir nun aufbauen. Im Rahmen des Aufrufs »Keep the Arts alive« vom Bundesverband Deutscher Stiftungen an kunst- und kulturfördernde Stiftungen nannte Mitinitiator Ansgar Wimmer, Vorstand der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S, den Hilfsfonds »Kunst kennt keinen Shutdown« als Vorbild für regionale Kooperationen und ermunterte damit auch weitere Stiftungen, sich bei uns einzubringen. Über die finanzielle Unterstützung hinaus war die Mitwirkung von Kolleg:innen anderer Stiftungen sehr wertvoll für die Ausgestaltung des Hilfsfonds sowie größtmögliche Objektivität und Transparenz.

Kunst kennt keinen Shutdown – die Bestätigung

Was konnten wir bewirken mit dem Hilfsfonds? In zwei Runden im April und Juli wurden Projektförderungen in einer Gesamthöhe von rund 700.000 Euro an 302 Künstler:innen und Gruppen ausgeschüttet. Gefördert wurde die Entwicklung neuer Formate, die Umarbeitung von Projekten in Corona-kompatible Präsentationsformen und die Arbeit an Vorhaben ohne konkrete Präsentationspläne (siehe Einblick in die geförderten Projekte). Insgesamt hatten uns 1.029 Anträge erreicht. Aus ihnen sprach sehr deutlich, wie prekär die Situation vieler Künstler:innen ist, aber auch wie wichtig es ihnen ist, ihre Arbeit fortzusetzen und damit sichtbar zu bleiben. Auch die Rückmeldungen auf die Förderzusagen machten dies deutlich. So schrieb eine Künstlerin: »Es ist sehr bemerkenswert wie schnell es für die Hamburgische Kulturstiftung selbstverständlich war zu erkennen, dass Kunst keinen Shutdown kennt und sie dementsprechend ein neues Förderinstrument geschaffen hat. Diese Wertschätzung bedeutet mir und unserer Kunstszene viel.« Kurz und knapp formulierte es ein anderer Künstler: »Oh toll, dann kann es ja weitergehen.«

Und wie geht es nun weiter?

Der Kulturbetrieb nimmt langsam wieder Fahrt auf, und auch viele unserer Förderprojekte finden wieder statt. Die eingangs erwähnte Rap-Tanz-Oper »The Nose« ist für Mai 2021 terminiert. In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt** zu Beginn des Shutdowns bezifferte die junge Choreografin Jessica Nupen die Kosten für die Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt auf ein Drittel des Gesamtbudgets. Die Problematik ist übertragbar: Ob abgesagte Theatervorstellungen, Konzerttourneen oder Ausstellungen – zahlreichen Künstler:innen aller Sparten waren für Bühnenbilder, Miete von Proberäumen, Erstellung von Werbemitteln, Reisekosten und vieles mehr bereits Kosten entstanden. Darüber hinaus waren die Beteiligten auf die Auszahlung der eingeplanten Honorare für ihre künstlerische Leistung, die Proben und die Aufführungen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu den Mehrkosten kommen die sinkenden Einnahmen aufgrund der Beschränkungen bei den Besucherzahlen.

Durch den Hilfsfonds ermöglichen wir den Künstler:innen daher nun, ihre verschobenen Projekte zu realisieren. Mit unserer Projektförderung unterstützen wir sie bei der Entwicklung neuer Vorhaben. Denn nun gilt es, ihnen trotz der anhaltenden Einschränkungen Kontinuität für die künstlerische Arbeit zu verschaffen. Die große Resonanz auf unseren Hilfsfonds war ein starkes Zeichen des Zusammenhalts für die Erhaltung der freien Kulturszene Hamburgs und für die Dringlichkeit, gemeinsam für sie einzustehen.

 

Über das Titelbild:

Die Serie »Only the Artist« zeigt einzelne Schauspieler:innen in leeren Theatern – hier Hanno Krieg im Zuschauerraum des FUNDUS Theaters – und dokumentiert so den schmerzhaften Stillstand und die Abwesenheit des Publikums im Kulturbetrieb. Das Projekt von Regisseur Helge Schmidt und Schauspielerin Laura Uhlig mit Fotografien von Maren Janning wurde aus dem Hilfsfonds »Kunst kennt keinen Shutdown« gefördert. © Maren Janning

 

* Diesen Beitrag können nur Kunden des Hamburger Abendblatt mit einem Abendblatt PLUS Zugang lesen: Link zum Beitrag.

** Dieses Interview können nur Kunden des Hamburger Abendblatt mit einem Abendblatt PLUS Zugang lesen: Link zum Interview.