Mehrheit der Deutschen befürworten klimapolitische Veränderungen
Neue Wertestudie der Bertelsmann Stiftung untersucht Haltungen zum Klimaschutz
Seit mehr als 30 Jahren wissen wir um die katastrophalen Folgen des menschengemachten Klimawandels. Nun warnt der Weltklimarat IPCC nochmals eindrücklich vor der zunehmenden Erderwärmung. Bereits 2030 anstatt 2050 könnten 1,5 Grad Erwärmung erreicht sein, heißt es im sechsten Sachstandsbericht, den der Weltklimarat IPCC vergangene Woche vorgestellt hat. Es bleibt damit noch weniger Zeit zum Handeln als bislang gedacht. Wird der Klimawandel auch von den Menschen als Problem erkannt?
Das Ja zum Klimaschutz ist heute gesellschaftlicher Konsens
Bereits heute spüren wir die Auswirkungen der Klimakrise. Wetterextreme wie Hitzewellen, Dürren und Starkregen nehmen zu. Die Polkappen schmelzen in rasantem Tempo ab und weltweit wüten immer häufiger verheerende Waldbrände. Die Folgen des menschengemachten Klimawandels sind nicht mehr zu übersehen. Mehr als acht von zehn Befragten in Deutschland halten den Klimawandel inzwischen denn auch für ein „sehr ernstes Problem“. Beinahe jede:r Dritte sieht darin gar das wichtigste Problem, dem die Welt gegenübersteht (Eurobarometer, Juli 2021).
Zahlreiche Studien belegen zudem, dass die meisten Menschen hier auch Handlungsbedarf sehen: So wird der Klimaschutz den Deutschen immer wichtiger. Und dieses Ja zum Klimaschutz ist nicht nur ein Lippenbekenntnis. In unserer am Montag erschienenen Studie gaben 72 Prozent der Befragten an, dass wir tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen brauchen, um den rasant fortschreitenden Klimawandel zu bewältigen. Aber bei den vielen kontroversen Debatten und unterschiedlichen Meinungen zum Thema stellt sich die Frage: Erreichen wir auch bei den konkreten Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe einen gesellschaftlichen Konsens?
Die Gesellschaft ist nicht gespalten, sondern vielfältig an Orientierungen
Wir haben in unserer Studie die unterschiedlichen Werthaltungen analysiert, die Menschen, häufig auch über alle sozioökonomischen Grenzen hinweg, miteinander verbinden oder auch trennen können.
Diese Werthaltungen lassen sich in einem Raum ansiedeln, der zwischen individuellen Freiheiten und eigenen Wünschen einerseits und Gemeinwohl und gesellschaftlichem Zusammenhalt andererseits aufgespannt ist. Dabei zeigt sich, dass die Gesellschaft nicht gespalten ist, sondern nur vielfältige Orientierungen nebeneinander bestehen. In Deutschland lassen sich sieben unterschiedliche, etwa gleichstarke Wertemilieus identifizieren, die diese Vielfalt abbilden:
- kreative Idealist:innen verstehen sich als meinungsstarke Avantgarde und vertreten insbesondere Werte wie Gleichheit, Pluralität und Nachhaltigkeit,
- bescheidene Humanist:innen sind an ähnlichen Werten orientiert, stellen dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse zurück,
- individualistische Materialist:innen sind stark leistungsorientiert und legen vor allem Wert auf Wohlstand und Konsum,
- unbeschwerte Beziehungsmenschen suchen die Geborgenheit sozialer Beziehungen, die ihnen wichtiger ist als individuelle Entfaltungsmöglichkeiten,
- sicherheitsorientierte Konservative orientierten sich an Bewährtem und stehen für Gemeinwohl und Sicherheit,
- leistungsorientierte Macher:innen suchen Erfolg und Anerkennung, legen dabei aber auch Wert auf ethisches Verhalten und Tradition,
- unkonventionelle Selbstverwirklicher:innen wollen sich vor allem als Individuum weiterentwickeln und vertreten eher postmaterialistische Werte.
Mehrheit für gesellschaftlichen Kurswechsel in der Klimapolitik
Trotz aller Unterschiede in den Orientierungen zeigt sich eine überraschend große Einigkeit der verschiedenen Wertemilieus in Zukunftsfragen. So ist in sechs der sieben von uns identifizierten Wertemilieus eine deutliche Mehrheit der Menschen davon überzeugt, dass wir einen gesellschaftlichen Kurswechsel brauchen, um den menschengemachten Klimawandel in den Griff zu bekommen. Nur im vornehmlich materialistisch eingestellten Milieu spricht sich lediglich eine Minderheit von 43 Prozent für klimapolitisch motivierte gesellschaftliche Veränderungen aus. Demgegenüber stimmen im Milieu der „Humanist: innen“ und der „Sicherheitsorientierten“ fast 80 Prozent der Befragten für einen radikalen Kurswechsel.
Die Klimapolitik spaltet das Land also keineswegs einfach in zwei große Lager. Blickt man auf die dahinterliegenden Werthaltungen, werden vielmehr unterschiedliche Facetten erkennbar. Ein Beispiel ist die höchst ambivalente Haltung der „leistungsorientierten Macher:innen“. Dieses eher jüngere, konservative und einkommensstärkere Wertemilieu ist sich einerseits durchaus im Klaren darüber, dass die Klimakrise tiefgreifende Veränderungen im Alltag notwendig macht. Dennoch setzen die „Leistungsorientierten“ zugleich auf den technologischen Fortschritt, oder sie hoffen, dass sich die Natur zumindest teilweise selbst regeneriert. Diese abwartende Veränderungsbereitschaft macht es ihnen möglich, am Status quo festzuhalten, ohne sich der Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels zu verweigern.
Auf die Gemeinsamkeiten kommt es an
In der Klimafrage besteht also insgesamt eine breite klimapolitisch motivierte Veränderungsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung. Nur an der Frage der konkreten Umsetzungsstrategien scheiden sich die Geister. Hier spielen die Haltungen der unterschiedlichen Wertmilieus eine entscheidende Rolle. Die Politik ist somit einerseits herausgefordert, die Bereitschaft für Veränderungen in der Bevölkerung stärker als bisher aufzugreifen. Anderseits sollte die Politik ausdrücklich die verschiedenen Werthaltungen für die wirkungsvolle Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen einbeziehen.
Eine lösungsorientierte Verständigung sollte darauf zielen, auf der Grundlage der gemeinsamen Veränderungsbereitschaft alle Wertemilieus in der Klimapolitik mitzunehmen sowie die unterschiedlichen Bewertungen ernst zu nehmen und anzuerkennen. Dabei geht es weniger darum, allen unterschiedlichen Orientierungen tatsächlich gerecht zu werden, sondern darum, den verschiedenen Sichtweisen Raum und Resonanz zu geben. Dadurch können auch Gemeinsamkeiten stärker sichtbar gemacht werden. Grenzen muss die Verständigung allerdings da finden, wo klimawissenschaftliche Fakten geleugnet werden.