Gesellschaftliche Vielfalt findet Anerkennung in allen Wertemilieus

Gesellschaftlicher Vielfalt ist lange nicht so umstritten, wie es oft scheinen mag. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen steht der Pluralität der modernen Gesellschaft grundsätzlich positiv gegenüber. Auch eine Polarisierung, der oft das Wort geredet wird, lässt sich hinsichtlich der Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland nicht feststellen. Das ist das Ergebnis der aktuellen Wertestudie der Bertelsmann Stiftung zu den zentralen Zukunftsthemen unserer Zeit.

Vielfalt ist für die meisten Menschen bereits Normalität

Wir leben heute in einer vielfältigen Gesellschaft. Individualisierung und Migration bedingen eine zunehmende Vielfalt. Das bereichert unser Zusammenleben nicht nur, sondern macht es oft auch anstrengender. Wo Menschen ihre unterschiedlichen kulturellen Traditionen, Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen leben, steigt der Aushandlungsbedarf. In den Medien entsteht dabei leicht das Bild einer heillos zerstrittenen Gesellschaft, in der Hass und Hetze überhandnehmen. Im Alltag erleben die meisten Menschen die politischen Auseinandersetzungen hingegen nach wie vor als respektvoll.

Das Zusammenleben in kultureller Vielfalt wird von der Mehrheit heute als gesellschaftliche Normalität anerkannt, wie bereits der Religionsmonitor 2018 gezeigt hat. Streit gibt es allerdings in Fragen der konkreten Ausgestaltung der gesellschaftlichen Vielfalt. Hier gehen die Meinungen häufig auseinander, was in einer demokratischen Gesellschaft nicht anders zu erwarten ist. Die politische Auseinandersetzung ist kein Zeichen gesellschaftlicher Spaltung, sondern gehört zur demokratischen Kultur. Menschen unterscheiden sich in ihren Erwartungen an die Politik und ihren Vorstellungen eines gelingenden Zusammenlebens in Vielfalt.

Mehrheit spricht sich für eine breite Vielfalt aus

In der aktuellen Wertestudie der Bertelsmann Stiftung sprechen sich nur gerade mal zwei Prozent der Befragten gegen eine vielfältige Gesellschaft aus. Hingegen zeigt sich fast die Hälfte (48 Prozent) der Befragten offen für eine breite Vielfalt als gegenseitige Anerkennung der verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen, die allein durch das Grundgesetz gerahmt wird. 40 Prozent der Befragten haben ein eingeschränktes Verständnis von Vielfalt, das sich vornehmlich am westlichen Kulturkreis orientiert. Konkrete Anpassungserwartungen äußert nur eine Minderheit: Gerade mal neun Prozent der Befragten sprechen sich für eine angepasste Vielfalt aus, die sich am Ideal einer homogenen Gesellschaft ausrichtet.

Wertemilieus prägen die Vorstellungen von Vielfalt

Auch wenn sich 96 Prozent der Befragten zu einer vielfältigen Gesellschaft bekennen, gibt es doch unterschiedliche Meinungen zum Umgang mit der Vielfalt. Für ein tieferes Verständnis dieser Unterschiede wurde in der Wertestudie der Bertelsmann Stiftung nicht allein nach Alter, Einkommen und Bildungsgrad gefragt. Es wurden auch die persönlichen Werthaltungen der Befragten einbezogen. Dabei konnten sieben verschiedene Wertemilieus in Deutschland identifiziert werden, die die Einstellungen zur gesellschaftlichen Vielfalt ebenso prägen wie die Einstellungen zum Klimaschutz oder zur sozialen Gerechtigkeit.

  1. kreative Idealist:innen verstehen sich als meinungsstarke Avantgarde und vertreten insbesondere Werte wie Gleichheit, Pluralität und Nachhaltigkeit,
  2. bescheidene Humanist:innen sind an ähnlichen Werten orientiert, stellen dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse zurück,
  3. individualistische Materialist:innen sind stark leistungsorientiert und legen vor allem Wert auf Wohlstand und Konsum,
  4. unbeschwerte Beziehungsmenschen suchen die Geborgenheit sozialer Beziehungen, die ihnen wichtiger ist als individuelle Entfaltungsmöglichkeiten,
  5. sicherheitsorientierte Konservative orientierten sich an Bewährtem und stehen für Gemeinwohl und Sicherheit,
  6. leistungsorientierte Macher:innen suchen Erfolg und Anerkennung, legen dabei aber auch Wert auf ethisches Verhalten und Tradition,
  7. unkonventionelle Selbstverwirklicher:innen wollen sich vor allem als Individuum weiterentwickeln und vertreten eher postmaterialistische Werte.
Darstellung der sieben Wertemilieus und ihrer Eigenschaften

Wertemilieus und ihre Einstellungen zur Vielfalt

Es sind vor allem die Idealist:innen und Humanist:innen, die einem breiten Verständnis von gesellschaftlicher Vielfalt zustimmen: Jeweils knapp zwei Drittel der Befragten in diesen Milieus zeigen sich offen für eine breite Vielfalt. Aber auch in den Milieus der Selbstverwirklicher:innen und Sicherheitsorientierten spricht sich eine Mehrheit für eine weitgehende Offenheit gegenüber kultureller Vielfalt aus. Dem stehen Beziehungsmenschen und Leistungsorientierte eher skeptisch gegenüber: Sie sprechen sich mehrheitlich für stärkere Einschränkungen, etwa im Sinne einer „Leitkultur“, aus.

Unter den Materialist:innen gehen lediglich 18 Prozent davon aus, dass ein Zusammenleben in offener Vielfalt gelingen kann. 42 Prozent sprechen sich hier für eine eingeschränkte Vielfalt aus. Deutlich häufiger als in den anderen Milieus werden im materialistischen Wertemilieu zudem Anpassungserwartungen geäußert: 38 Prozent der Materialist:innen sind der Meinung, dass sich Eingewanderte an die deutsche Gesellschaft anpassen müssten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden.

Die Wirkung einer vielfältigen Nachbarschaft auf die Haltung zur Vielfalt

Eine 2020 erschienene Studie des Woolf Institute kommt zu dem Ergebnis, dass freundschaftliche Kontakte in der Nachbarschaft dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und die Offenheit gegenüber Vielfalt in der Gesellschaft zu fördern. Auch die Wertestudie der Bertelsmann Stiftung hat nach den Alltagserfahrungen im eigenen Wohnumfeld gefragt. Und tatsächlich lässt sich generell feststellen, dass die Zustimmung zu einer breiten Vielfalt ansteigt, wenn Befragte ihr persönliches Wohnumfeld als vielfältig erleben. Allerdings gilt das nicht in allen Wertemilieus und nicht gleichermaßen.

So steigt die Zustimmung unter den Humanist:innen, Selbstverwirklicher:innen und auch Sicherheitsorientierten um jeweils rund 10 Prozentpunkte. Offensichtlich fühlen sich die Befragten in diesen Milieus, welche ohnehin eine große Offenheit gegenüber Vielfalt auszeichnet, durch persönliche Erfahrungen in ihrer Haltung bestätigt. Im Gegensatz dazu sinkt im Milieu der Materialist:innen die Zustimmung zu einer breiten Vielfalt um mehr als die Hälfte, sobald die Befragten davon berichten, in einer vielfältigen Nachbarschaft zu leben. Persönliche Erfahrungen haben hier einen gegenteiligen Effekt: Sie verstärken die bereits vorhandene reservierte Haltung.

Auch Beziehungsmenschen stehen einer offenen Vielfalt eher skeptisch gegenüber. Wider Erwarten steigt in diesem Wertemilieu aber die Zustimmung zu einer breiten Vielfalt. Für Beziehungsmenschen sind soziale Kontakte und persönliche Erfahrungen also wichtiger als die eigenen Werthaltungen. Umgekehrt verhält es sich bei Idealist:innen und Leistungsorientierten, die besonders stark an ihren Werten festhalten. In beiden Milieus spielt die Vielfältigkeit des Wohnumfelds für die Offenheit gegenüber einer breiten Vielfalt keine Rolle.

Gesellschaftlicher Dialog zur Ausgestaltung der Vielfalt ist notwendig

Eine Analyse der Werthaltungen kann viel dazu beitragen, zu verstehen, wie sich Menschen ein gelingendes Zusammenleben in Vielfalt vorstellen und was sie von der Politik erwarten. Trotz aller Unterschiede in den Vorstellungen und Erwartungen lässt sich aber festhalten, dass eine überdeutliche Mehrheit der Deutschen die gesellschaftliche Vielfalt akzeptiert und anerkennt. Empirische Belege für eine Spaltung der Gesellschaft lassen sich auch bei der Zukunftsfrage des Zusammenlebens in Vielfalt nicht finden. Ebenso wie beim Klimaschutz und bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit gibt es einen grundlegenden Konsens über alle Wertemilieus hinweg. Nichtsdestotrotz zeigt sich ein großer Bedarf, die konkrete Ausgestaltung des Zusammenlebens in Vielfalt noch stärker als bisher zu diskutieren und auszuhandeln – und zwar unter Einbeziehung aller Wertemilieus. Nur so kommen wir zu neuen  – und von der Mehrheit mitgetragenen –  Lösungen.