Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten von Corona
Wird die Corona-Krise den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken oder treibt sie die Spaltung weiter voran? Denken Sie, es wird alles wieder wie vor der Krise? Oder sind Sie hin- und hergerissen, da es für alle drei möglichen Entwicklungen gute Argumente gibt?
Hierüber sprachen wir bei unserem Fachgespräch „Zusammenhalt in Zeiten von Corona“ mit Prof. Dr. Jutta Allmendinger. Als Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung veröffentlichte sie zuletzt mit ihrem Mitarbeiter Jan Wetzel ein viel beachtetes Buch über „Vertrauen“. Ob die Krise den Zusammenhalt nun stärkt oder schwächt, darüber waren sich die Teilnehmenden unserer Diskussionsrunde nicht einig. Eine kurze Umfrage zu Beginn und am Ende des Gesprächs zeigte jedoch, dass die wenigsten davon ausgehen, dass es wieder wird wie vor der Krise.
Die wenigsten gehen davon aus, dass es wieder wird wie vor der Krise.
In einer Welt ohne Corona wäre Jutta Allmendinger unser Gast auf dem Deutschen Stiftungstag in Leipzig gewesen. Dort hatten wir, die Allianz für gesellschaftlichen Zusammenhalt, eine Session geplant, die sich mit der Rolle von Stiftungen für den Zusammenhalt beschäftigen sollte. Die Allianz ist ein Zusammenschluss von inzwischen zehn Stiftungen, die sich in ihrer Arbeit mit dem Zusammenhalt in Deutschland befassen. Der Stiftungstag ist wie alle Großveranstaltungen Corona-bedingt ausgefallen. Daher sprachen wir in einem digitalen Format mit Frau Allmendinger und Vertreterinnen und Vertretern aus Ministerien, Stiftungen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft darüber, welche Herausforderungen durch die Corona-Pandemie besonders drängend geworden sind.
Im Folgenden möchte ich die für mich wichtigsten Thesen aus dem Fachgespräch mit Jutta Allmendinger mit Ihnen teilen und persönlich einordnen.
„Durch den Wegfall von persönlichen Kontakten leidet das Vertrauen in Fremde.“
Die erste These von Jutta Allmendinger zielt darauf ab, dass mit den Corona-bedingten Kontakteinschränkungen ein Rückgang an Vertrauen in der Bevölkerung zu beobachten ist und in Folge dessen auch der Zusammenhalt abnimmt. Auch in unseren Studien identifizieren wir regelmäßig Vertrauen als wichtiges Element gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das Schwinden des Vertrauens wird in Corona-Zeiten dadurch verstärkt, dass zufällige Kontakte fast nicht mehr stattfinden. Homeoffice, Homeschooling, abgesagte Veranstaltungen sowie geschlossene Freizeiteinrichtungen, aber auch die Vermeidung von öffentlichen Verkehrsmitteln sind Gründe hierfür, so Allmendinger. Digitale Formate helfen uns, Kontakte aufrechtzuerhalten, doch sie können die persönliche Begegnung nicht ohne Weiteres ersetzen. Auf jeden Fall bedürfen sie der bewussten Gestaltung. Anschaulich zeigte sich das schon zu Beginn des Fachgesprächs: Während bei analogen Veranstaltungen die Teilnehmenden vorher zusammenstehen und sich austauschen oder mit ihren unbekannten Sitznachbarn ins Plaudern kommen, herrschte im digitalen Konferenzraum zunächst Schweigen. Dies habe ich, wie Sie wahrscheinlich auch, nun schon öfter beobachtet.
Inzwischen habe ich gelernt, dass, wenn der Rahmen es zulässt, Humor und Bewegung erfolgreiche Instrumente sein können, um das Eis im Videochat zu brechen und aus einer bunt zusammengewürfelten Gruppe vor der Webcam eine engagiert diskutierende Gemeinschaft auf Zeit zu machen. Dies sind wichtige Erfahrungen, die wir mitnehmen in die Zeit nach Corona. Denn auch dann werden wir stärker auf digitale Kommunikationswege zurückgreifen, so meine Prognose. Vielleicht müssen wir die jetzige Phase auch als Lehrstunde der digitalen Kommunikation verstehen, die uns fit macht für die Zukunft.
Die jetzige Phase ist eine Lehrstunde in digitaler Kommunikation.
Einen Digitalisierungsschub gab es vermutlich bei den allermeisten von uns. Ich selbst habe in der Zeit der Kontaktbeschränkungen den Job gewechselt und in den ersten Wochen mein neues Team nur in Videokonferenzen aus dem Homeoffice heraus kennengelernt. Diese persönliche Erfahrung zeigt mir, dass der Vertrauensaufbau über rein digitalen Kontakt eben länger braucht, es sich aber allemal lohnt, das persönliche Gespräch zu suchen. Informeller Austausch vor dem Start größerer online Meetings oder digitale Kaffeepausen können helfen und sind wichtig. Ich würde mir wünschen, dass wir lernen, eine neue Balance zu finden zwischen persönlichen und digitalen Treffen.
„Zu Beginn der Krise war die Solidarität in der Bevölkerung groß, aber nun wachsen die Erwartungen, dafür etwas zurück zu bekommen.“
Gerade in der Anfangsphase der Corona-Krise erlebten wir vielerorts große Solidarität unter den Menschen: Nachbarschaftshilfen gründeten sich spontan und aus Rücksicht auf andere wurde auf persönlichen Kontakt verzichtet. Wie Allmendinger deutlich machte, zeigt sich durch die anhaltenden Einschränkungen im Alltag inzwischen jedoch, dass diese Solidarität sich mittelfristig nur auf das nähere Umfeld, also den Familien- und Freundeskreis, bezieht. Bedingungslose Solidarität besteht eben nicht gegenüber Fremden, wie Jutta Allmendinger weiter ausführte. Vielmehr wächst mit der Zeit die Erwartung, für die Solidarität eine Gegenleistung zu erhalten. Bleibt diese aus, nimmt die Spaltung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu.
Bekommen wir für unsere Solidarität eine Gegenleistung?
Dieser Punkt leuchtet ein: Wenn sich bei einem selbst der Eindruck verfestigt, die eigene Gruppe zeige sich stets solidarisch gegenüber den anderen, aber umgekehrt gelte dies nicht, wächst der Frust. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: wenn die jungen Leute darauf verzichten, Party zu machen, damit das Risiko der Ansteckung für ältere Menschen geringer gehalten wird; wenn kinderlose Kollegen die Arbeit von denjenigen miterledigen, die ihre Kinder betreuen müssen, oder wenn Frauen zugunsten ihrer Männer im Beruf zurückstehen, um Betreuungsaufgaben zu übernehmen. Obwohl diese Spannungsverhältnisse offensichtlich sind, waren sie mir vor dem Fachgespräch nicht präsent. Je länger die Kontaktbeschränkungen bestehen und jeder Einzelne aus Rücksicht auf andere in seiner Freiheit beschnitten ist, desto größer sind die Erwartungen, dafür belohnt zu werden. Wachsender Zulauf bei „Hygienedemos“ und immer lautere Forderungen, die Beschränkungen aufzuheben, auch zum Preis von mehr Corona-Infizierten oder -Toten, sind Ausdruck dieser Unzufriedenheit.
Die Regierung versucht, in der Krise durch milliardenschwere Programme die Wirtschaft, Familien und Selbstständige zu unterstützen und so auch etwas zurück zu geben. Dabei besteht die Gefahr, dass trotz der großen Anstrengungen der Regierung bei denjenigen keine Hilfe ankommt, die sich in den letzten Monaten solidarisch gezeigt und alle Maßnahmen mitgetragen haben. Dies führt möglicherweise zu Frustration und Enttäuschung bis hin zur Entsolidarisierung von manchen Teilen der Bevölkerung. Dass dabei in manchen Fragen größere Reformen als Steuersenkungen notwendig wären, bringt mich zum nächsten Punkt von Jutta Allmendinger.
„Durch die Corona-Krise kam es zu einer „entsetzlichen Retraditionalisierung“ der Rolle der Frau in der Gesellschaft.“
Bereits vor der Krise arbeitete ein Großteil der Frauen in Teilzeit. In der Krise haben viele Frauen ihre Stundenzahl reduziert, um den Familienalltag am Laufen zu halten. Jedoch ist dies nicht allein Folge der Krise, sondern hier greifen auch strukturelle Mechanismen wie das Ehegatten-Splitting. Das deutsche Steuersystem belohnt systematisch das traditionelle Ernährermodell in der Partnerschaft. Wenn, wie in den meisten Fällen, die Frau weniger verdient als der Mann und deshalb ihre Erwerbstätigkeit reduziert, verfestigt dies in der Krise die klassischen Rollenverteilungen umso mehr, wie Jutta Allmendinger ausführte.
Diese Entwicklungen sind besonders für Frauen, die noch vor der Wahl stehen, ob sie Kinder bekommen oder nicht, sehr schlechte Nachrichten. Insbesondere, wenn man die Ergebnisse der Kurzexpertise „Frauen auf dem deutschen Arbeitsmarkt – Was es sie kostet, Mutter zu sein“ meiner Kolleginnen mit einbezieht. Die Untersuchung zeigt, dass Mütter eines Kindes im Vergleich zu Frauen ohne Kinder vor der Krise durchschnittliche Einbußen im Lebenserwerbseinkommen von rund 40 Prozent haben, bei Müttern von mehreren Kindern sind die Einbußen noch höher. Eine zusätzliche Stundenreduzierung bedingt durch die Corona-Krise lässt eine noch höhere Einbuße erwarten. Gleichzeitig scheinen diese Entwicklungen auch nicht verwunderlich, ist es doch von Seiten des Staates anscheinend so gewollt. Diskussionen über diese systemische Benachteiligung und Gelegenheiten, diese abzuschaffen bzw. zu reformieren, gab es in der Vergangenheit zahlreiche. Zu Recht fordert Jutta Allmendinger eine gesellschaftliche Debatte hierüber, denn die Krise wird auch Auswirkungen auf die zukünftigen Renten der arbeitenden Frauen haben und bietet Anlass für Reformen. Immerhin betrifft diese Entwicklung quasi die Hälfte der Bevölkerung, die gemeinsam auch über politischen Einfluss bei Wahlen verfügt.
„Fragen der Bildungsgerechtigkeit treten angesichts der Krise stärker hervor.“
Ungefähr drei Monate waren Schulen und Kitas geschlossen. Viele Eltern machten ungeahnte Erfahrungen mit Kinderbetreuung und Homeschooling bei gleichzeitigem Homeoffice. Fraglich ist, wie der Nachteil ausgeglichen werden kann, der vielen Kindern dadurch entstanden ist, dass sie in den letzten Monaten die Schule nicht besuchen konnten und ihre Eltern, aus ganz unterschiedlichen Gründen, oft nicht in der Lage sind, als Ersatzlehrkraft einzuspringen. Häufig trifft dies Kinder und Jugendliche, die durch das bestehende Bildungssystem bereits benachteiligt sind.
Die fehlende Chancengleichheit im Bildungssystem muss neu diskutiert werden.
Bislang habe ich diesen Aspekt der Corona-Krise wenig bedacht, da er mich nicht direkt betrifft. Auffällig ist jedoch, wie lange die Schulministerien gebraucht haben, um einen Plan zu erarbeiten, wie Schule in Pandemie-Zeiten trotzdem funktionieren kann. Nicht auszumalen, wenn Unternehmen in der Krise genauso langsam reagiert hätten. Was die Entwicklungen für den oder die einzelne SchülerIn langfristig bedeutet, ist schwer abzuschätzen. Eine öffentliche Debatte über fehlende Chancengleichheit in der Bildung wäre auf jeden Fall ein wichtiger Anfang. Besonders, wenn man die von Jutta Allmendinger vorgestellten Forschungsergebnisse bedenkt, die zeigen, dass Vertrauen in andere auch stark mit Bildung zu tun hat und somit Chancengleichheit im Bildungssystem wiederum Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat.
Immer wieder zeigt sich in der Krise, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt durch verschiedene Entwicklungen in Gefahr ist. Schon länger bestehende Missstände treten in der Krise deutlicher hervor und machen offensichtlich, was passieren kann, wenn wir nicht gemeinsam gegensteuern. Krisenzeiten sind auch gute Gelegenheiten für gesellschaftliche Debatten und politische Reformen. Diese müssen wir als Gesellschaft jetzt führen und einfordern, um gestärkt aus der Krise hervor zu gehen.