Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Corona-Krise: Fortbestand oder Bruch?
Wieder normal zur Arbeit, in die Uni oder Schule gehen, ohne Maske durch die Einkaufsstraße laufen, oder einfach all seine Liebsten wieder richtig in die Arme schließen – kurz gesagt, das Leben, wie es vor der Corona-Pandemie war – das wünschen sich momentan wohl alle zurück. Ich stelle da keine Ausnahme dar. Das Leben als Studentin in einer Pandemie hat absolut nichts mehr mit dem Studentenleben zu tun, wie man es sich vorstellt oder bis zum März 2020 kannte. Wir befinden uns nun schon seit zwei Jahren in einem Krisenmodus, der kein Ende zu nehmen scheint. Aktuell ist in der Gesellschaft eine eher negative Grundstimmung wahrzunehmen. Viele Menschen haben das Gefühl, der Zusammenhalt sei gefährdet und die Gesellschaft drifte auseinander. Doch wie ist es um den Zusammenhalt in der Gesellschaft bestellt?
Momentan habe ich mein Studium gegen ein Praktikum bei der Bertelsmann Stiftung eingetauscht. In dem Projekt, in dem ich mitarbeite, wird seit über zehn Jahren der gesellschaftliche Zusammenhalt untersucht. Jetzt konnte ich direkt zu Beginn des Praktikums an einer Veröffentlichung mitwirken, die sich die Auswirkungen der Pandemie mal etwas genauer anschaut.
Um herauszufinden wie die Monate der Corona-Zeit bislang den Zusammenhalt beeinflusst haben, vergleichen wir mehrere Umfragen, die über die letzten Jahre hinweg durchgeführt wurden: eine Studie aus dem Jahr 2017 und drei weitere, zum Thema Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie aus dem Jahr 2020. Um eine aktuelle Bilanz ziehen zu können, beziehen wir uns darüber hinaus auf die Umfrage aus dem Februar 2022.
Bevor ich hier nun die Ergebnisse vorstelle, möchte ich erklären, was genau mit gesellschaftlichem Zusammenhalt gemeint ist und wie er sich empirisch erfassen lässt. Dafür wurde ein mehrdimensionales Modell als Messinstrument entwickelt, der sogenannte „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“. Mit ihm soll die Qualität verschiedener Aspekte des Zusammenhalts, wie belastbare soziale Beziehungen, positive emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und ausgeprägte Gemeinwohlorientierung, gesichtet werden, um am Ende eine Gesamtaussage über den gesellschaftlichen Zusammenhalt treffen zu können. Insgesamt umfasst der Radar 36 Einzelindikatoren. Mehr dazu findet man zum Beispiel in unserer älteren Studie: Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017. Da aber nicht in allen Erhebungen, um die es jetzt gehen soll, alle 36 Indikatoren enthalten waren, wurden für die Corona-Bilanz ein paar ausgewählte Aspekte hervorgehoben und verglichen. Dazu gehören beispielsweise die Lebenszufriedenheit, Zukunftssorgen und Einsamkeit, aber auch Institutionenvertrauen, Demokratiezufriedenheit, Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Die Umfrageergebnisse im Überblick – Zukunftssorgen und Einsamkeit nehmen im Laufe der Pandemie drastisch zu
Im Wintersemester 2019/2020 hatte ich gerade mein erstes Semester an der Uni abgeschlossen, freute mich endlich im neuen Lebensabschnitt angekommen zu sein und plötzlich war nichts mehr wie vorher: Herzlich Willkommen im Lockdown. Nachdem das erste organisatorische Chaos beseitigt war, herrschten in den ersten Wochen große Rücksichtnahme und Verständnis vor. Niemand mochte seine Freund:innen, Eltern oder Großeltern anstecken. Doch schon bald schlug die Stimmung um: Verständnis wurde zu Frustration und Ungeduld.
So hatte sich niemand von uns das Studium vorgestellt.
Ich beobachtete wie meine Kommiliton:innen ihre Studentenjobs aufgeben mussten, die Sorgen um Semesterbeiträge und Miete stiegen. Zudem nagte auch an mir zunehmend die Einsamkeit, schwarze Kacheln in einem Zoom-Raum sind eben nicht das Gleiche wie ein Hörsaal voller Kommiliton:innen und Freund:innen.
Die Umfragedaten aus den letzten zwei Jahren spiegeln meine eigenen Erfahrungen wider: Während sich vor der Pandemie eher weniger Menschen Sorgen um ihre Zukunft machten und sich weniger einsam fühlten, änderte sich das bereits im ersten Jahr nach Beginn der Corona-Krise. Im Dezember 2020 sagten bereits 38 Prozent der Befragten, dass sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen und 32 Prozent gaben an, sich einsam zu fühlen. Blicken wir auf die Werte von 2022, so sind beide Werte nochmals angestiegen. Fast die Hälfte aller Befragten macht sich inzwischen Sorgen um die Zukunft und rund 35 Prozent sagen, sie fühlten sich einsam. Besonders Menschen mit niedrigem Einkommen plagen vermehrt Zukunftssorgen. 84 Prozent hatten Ende 2020 das Gefühl, das Zusammenleben sei belastet. Dieser Wert bleibt in den Ergebnissen von 2022 unverändert. Das Gefühl der Belastung in der Gesellschaft bleibt bestehen.
Lebenszufriedenheit dramatisch gesunken
Mit größeren Zukunftssorgen und zunehmender Einsamkeit sinkt auch die Lebenszufriedenheit der meisten Menschen im Laufe der Pandemie. Während zuvor und selbst noch im Sommer 2020 über 80 Prozent der Befragten angaben eher zufrieden mit ihrem Leben im Allgemeinen zu sein, lag dieser Wert Anfang 2022 bei nicht einmal mehr 70 Prozent. Hier spiegeln sich die sozialen, psychischen und wirtschaftlichen Belastungen wider, mit denen viele Menschen zu kämpfen hatten. Diese Belastungen sind immer noch deutlich spürbar, ganz egal wohin ich auch blicke. Vom „Normalzustand“ sind wir immer noch weit entfernt. Und angesichts des Kriegs in der Ukraine und den Herausforderungen der Versorgung und Unterbringung von Tausenden von Flüchtlingen, ist auch jenseits der Corona-Pandemie im Augenblick von einer Rückkehr zur Normalität von vor 2 Jahren eher nicht die Rede.
Solidarität und Hilfsbereitschaft haben zuletzt deutlich abgenommen
Ob es darum ging für die älteren Nachbarn einkaufen zu gehen, oder die alte Nähmaschine auszupacken und aus Stoffresten fleißig Masken zu nähen: Überall ließ sich zu Beginn der Pandemie eine große Solidarität und Hilfsbereitschaft beobachten. Auch die Umfragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt aus dem Jahr 2020 zeigen, dass die Menschen dies im Sommer 2020 so wahrgenommen haben. Im Februar 2022 sieht die Lage völlig anders aus: „Die meisten Leute kümmern sich in Wirklichkeit gar nicht darum, was mit ihren Mitmenschen geschieht“. Dieser Aussage stimmen fast 60 Prozent zu. Das sind weitaus mehr als vor der Pandemie. Die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Menschen scheinen über die lange Dauer der Pandemie hinweg an ihre Grenzen zu stoßen. Persönlich habe ich aber aktuell den Eindruck, dass – vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine – beide Aspekte gerade wieder aufleben.
Institutionenvertrauen und Demokratiezufriedenheit fallen auf einen neuen Tiefstand
Das Institutionenvertrauen, besonders das in die Bundesregierung, erlebte im ersten Jahr der Pandemie geradezu einen Boom, genauso die Demokratiezufriedenheit. Die Menschen hatten sogar mehr Vertrauen in die politischen Institutionen und waren viel zufriedener mit der Demokratie in Deutschland als 2017, vor der Pandemie. Man erkannte deutlich die Welle von Verständnis für die ersten getroffenen Maßnahmen. Wir alle wollten dazu beitragen, die Pandemie schnellstmöglich in den Griff zu bekommen, waren motiviert einen Beitrag zu leisten. Umso dramatischer – für mich jedoch keinesfalls überraschend – ist der massive Einbruch beider Werte zum Jahresbeginn 2022. Es wird ein neuer Tiefstand erreicht.
Ich habe im Verlauf der Pandemie eine wachsende Uneinigkeit in der Gesellschaft beobachtet, welche diesen massiven Einbruch für mich erklärt.
In vielen Fällen kann ich den Unmut der Menschen sogar verstehen.
Die immerzu wechselnden und uneinheitlichen Corona-Maßnahmen der Länder und der chaotische Start der Impfkampagnen haben nicht dazu beigetragen, der Gesellschaft das Gefühl zu vermitteln, die Lage sei unter Kontrolle. Vielmehr geschieht das Gegenteil: Schweren Herzens beobachte ich, wie die kleinen Cafés und Läden in meiner Heimatstadt schließen mussten. Sie haben den Lockdown nicht überlebt, den Angestellten brach das regelmäßige Einkommen weg. Aber nicht nur die Innenstädte waren gespenstisch leer, auch die Schulen und andere Bildungseinrichtungen mussten für eine längere Zeit schließen. Ich erinnere mich, dass die vielen Fernsehberichte zur Zeit des Lockdowns vor allem auf die Kinder aufmerksam machten. Besonders die bildungsfernen Familien waren stark von der Maßnahme der Schulschließungen betroffen. Die Betreuungsangebote für die Kinder fielen weg und häufig waren die Eltern nicht in der Lage Unterstützung bei den Hausaufgaben zu leisten. Schaut man sich daher die beiden Aspekte, Institutionenvertrauen und Demokratiezufriedenheit, genauer an, fällt auf, dass sowohl die Höhe der formalen Bildung als auch das Einkommen eine Rolle spielen: Menschen mit einer niedrigeren formalen Bildung und niedrigerem Einkommen haben weniger Vertrauen in die Institutionen und sind unzufriedener mit der Demokratie.
Also … Wie steht es denn nun um den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass der Zusammenhalt in den ersten Monaten der Pandemie einen deutlichen Aufschwung erlebt hat. Aktuell bleibt davon allerdings nicht mehr viel übrig. Im Gegenteil: Der Zusammenhalt scheint deutlich an seine Grenzen zu stoßen, die Menschen sind erschöpft und frustriert. Unsere Umfragedaten ergeben: Die Situation ist zwar angespannt, aber klare Zeichen für eine vollständige Spaltung der Gesellschaft, oder einen endgültigen Bruch des Zusammenhalts finden wir nicht. Ich kann diese allgemeine Stimmung gut nachvollziehen, deshalb ist es für mich momentan ein Lichtblick mein Praktikum hier in der Bertelsmann Stiftung in Präsenz durchführen zu können und jeden Morgen zur Stiftung zu fahren, um von dort aus zu arbeiten.
Allerdings scheint uns keine Atempause vergönnt zu sein. Die Corona-Krise ist noch nicht überstanden und schon befinden wir uns bereits in der nächsten Krise. Was das für unseren Zusammenhalt in der Gesellschaft bedeutet, bleibt leider noch unbeantwortet. Beantworten konnte jedoch die Uni die Frage nach dem Sommersemester: Es sollen möglichst viele Veranstaltungen wieder in Präsenz stattfinden. Diese kleine Mitteilung löste unter all meinen Kommiliton:innen und Freund:innen große Freude aus und ist – meiner Meinung nach – ein Schritt in die richtige Richtung, um der Frustration und Einsamkeit entgegenzuwirken. Ich hoffe wir können uns als Gesellschaft im Sommer erneut auf unseren Zusammenhalt besinnen und freue mich über jedes Stück Studentenleben, welches ich zurückgewinne.