Serie über Zusammenhalt in Zeiten der Krise | Teil 1: Zusammenhalt hat Konjunktur
Über die Serie: Im Projekt „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ untersuche ich seit 2012, wie es um das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland bestellt ist. Grundlage ist ein Modell mit neun Dimensionen: Soziale Netze, Vertrauen, Akzeptanz von Vielfalt, Identifikation, Institutionenvertrauen, Gerechtigkeitsempfinden, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Anerkennung sozialer Regeln und gesellschaftliche Teilhabe. In jedem Teil dieser Serie werde ich darauf eingehen, welche Auswirkungen die Coronakrise auf jeweils eine der Dimensionen von Zusammenhalt hat. Zum Auftakt möchte ich aber allgemein der Frage nachgehen, weshalb das Thema Zusammenhalt gerade jetzt in diesen Zeiten besonders Konjunktur hat und was die Coronakrise damit zu tun hat.
Zusammenhalt hat Konjunktur – Besonders in der Coronazeit
Vor vielen Jahren habe ich einen Google-Alert für das Stichwort „Zusammenhalt“ eingerichtet. Dieser informiert mich jeden Mittag über Nachrichtenbeiträge, die den Suchbegriff enthalten. Mein ganz persönlicher Eindruck war bereits in den letzten Jahren, dass die Anzahl der Beiträge in meinem Emaileingang kontinuierlich zugenommen hat. Immer häufiger beschwören Politiker:innen den Zusammenhalt. Vielleicht am prominentesten unser gegenwärtiger Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner ersten Rede, nachdem er von der Bundesversammlung ins Amt gewählt wurde.
„Wir leben in stürmischen Zeiten. Viele in unserem Land sind verunsichert. Die Welt – das hat der ein oder andere vermutlich von mir schon mal gehört – scheint aus den Fugen. Aber viele fragen auch: Was ist eigentlich der Kitt – der Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält? Und hält dieser Kitt auch für die Zukunft?“
– Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Rede am 12.02.2017
Ganz praktisch habe ich diese Konjunktur auch dadurch zu spüren bekommen, dass ich in den Jahren 2018 und 2019 so oft wie noch nie für Vorträge zu dem Thema eingeladen wurde. Nach eigener Zählung habe ich in den beiden Jahren 41mal als Redner zu diesem Thema gesprochen; in Landtagsfraktionen, bei Wohlfahrtsverbänden und auch bei Medienkongressen.
Durch ein tolles Werkzeug der Wochenzeitschrift DIE ZEIT konnte ich letztes Jahr meinen subjektiven Eindruck mit handfesten Zahlen bestätigen. Damit kann man sich angeben lassen, wie häufig bestimmte Schlagworte in den Parlamentsreden seit 1949 vorkommen. In der Abbildung sieht man die Werte für Zusammenhalt. Der Trend ist klar zu erkennen.
Seit diesem Jahr, seit der Coronakrise, ist das Thema Zusammenhalt endgültig in aller Munde. Gefühlt stimmt das auf jeden Fall, aber ich wäre ein schlechter Empiriker, hätte ich nicht auch hierfür zumindest einen quantifizierbaren Beleg. Mit Google-Trends lässt sich die Häufigkeit von Suchanfragen analysieren. Und das ist schon beeindruckend: Im März 2020 gab es die meisten Suchanfragen zum Stichwort „Zusammenhalt“ bei Google aller Zeiten. Der Begriff wurde etwa viermal häufiger in die Suchleiste getippt als in jedem anderen Monat in den Jahren zuvor (siehe Abbildung; dazu der Hinweis: Der höchste Suchwert wird von Google bei dieser Analyse auf 100% und alle anderen Werte dazu ins Verhältnis gesetzt).
Warum interessieren sich eigentlich in der Krise alle für den Zusammenhalt?
Ganz grundsätzlich kann man sagen, dass Zusammenhalt ein Krisenthema ist. Die Menschen kümmern sich vor allem immer dann um ihn, wenn sie die Sorge haben, dass er gefährdet ist. Wenn alles gut läuft, muss man den Zusammenhalt auch nicht zusätzlich beschwören. Aber das allein erklärt noch nicht, warum er in dieser spezifischen Krise so häufig bemüht wird. Das liegt m.E. an mindestens fünf Aspekten die diese Krise auszeichnen:
- Eine Pandemie ist eine soziale Krankheit
Lange vor Corona hatte Malte Thießen z.B. schon 2015 in einem Text für die Bundeszentrale für politische Bildung geschrieben „Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie treffen ganze Gesellschaften, schüren kollektive Ängste und verschärfen soziale Spannungen.“ Dadurch, dass sich Viren durch sozialen Kontakt ausbreiten, produzieren Pandemien Trennungslinien in der Gesellschaft. Es gibt die (noch) Gesunden und die Infizierten, vor denen man sich in Acht nehmen muss und die gemieden oder in Quarantäne gesteckt werden. Die wichtigste Maßnahme um Pandemien einzudämmen besteht deshalb darin, das soziale Leben einzuschränken: Großveranstaltungen absagen, Schulen schließen und Kontakte vermeiden. Wenn also Pandemien (und Epidemien) soziale Krankheiten sind, dann ist klar, dass es im Umkehrschluss auch immer darum geht, was diese Krankheiten mit dem sozialen Miteinander machen.
- In der Krise ist eine soziale Tugend besonders wichtig: Rücksichtnahme
Bei der Bewältigung der Pandemie und dem Umgang mit ihren Folgen spielte eine soziale Tugend eine große Rolle: Rücksichtnahme. Dahinter verbirgt sich eine Haltung, die verlangt, die eigenen Bedürfnisse und Interessen im Hinblick auf die Bedürfnisse und Interessen anderer oder der Allgemeinheit zurückzustellen. Zwar gab es – gerade zu Beginn – Hamsterkäufe, aber im Großen und Ganzen zeigte sich, dass die meisten Menschen nicht nur an sich selbst, sondern auch an andere dachten. Solche Krisensituationen können aber auch ins Negative kippen. Jeder Hollywood-Endzeitkatastrophenfilm liefert dafür das notwendige Anschauungsmaterial: Aufruhr, Panik, Plünderungen und „jeder gegen jeden“. Will man eine Krise erfolgreich bewältigen, darf das nicht passieren. Dafür braucht man Rücksichtnahme, selbst wenn es nur darum geht, Abstand zu halten. Und Rücksicht zu nehmen gelingt dann leichter, wenn der Zusammenhalt stark ist, weil sich dann jeder Einzelne als Teil eines größeren Ganzen versteht.
- Für sich allein und ohne Hilfe kann man in der Krise kaum bestehen
Die meisten von uns sind es gewohnt, das eigene Leben ganz allein gut im Griff haben. Alles ist gut organisiert und verfügbar. Sieben Tage die Woche und (fast) 24 Stunden am Tag. Wenn im Haushalt etwas fehlt, kann man es schnell im nächsten Supermarkt besorgen. Für die Kinderbetreuung gibt es Kitas. Wenn es irgendwo zwickt oder sich ein ungutes Gefühl aufdrängt, geht man zum Arzt. All das wurde nun – zumindest für kurze Zeit – ganz anders. Da gab es in Supermärkten bestimmte Produkte nicht mehr zu kaufen, Schulen und Kitas waren geschlossen und die Krankenhäuser verschoben nicht notwendige Behandlungen. In der Krise zeigte sich uns, an wie vielen Stellen wir auf andere angewiesen sind: Damit sie Besorgungen erledigen, Kinder betreuen oder bei alltäglichen Notfällen unterstützen. Die Krise macht uns allen deutlich, wie fragil unser individualistischer Alltag ist und wie sehr wir letztlich doch auf andere, auf den sozialen Zusammenhalt, angewiesen sind. In einem Beitrag über die Rückkehr des Gemeinwohls in der Frankfurter Rundschau hat der Philosoph Philipp Hübl treffend argumentiert:
„Der Individualismus des Westens wird durch eine winzige Proteinstruktur von 125 Nanometern herausgefordert, die nur durch mehr Kollektivismus bekämpft werden kann. Das Virus zwingt uns, unseren progressiven Freiheitsbegriff zu überdenken, bei dem es immer mehr um Selbstverwirklichung und Singularisierung ging, um ein Leben, das immer ausgefallener und hedonistischer wurde.“
- In der Krise werden Ungleichheiten sichtbarer
Unsere Gesellschaft ist von Ungleichheit geprägt. Manche haben mehr, andere weniger. Den einen stehen alle Türen offen, die anderen stoßen immer wieder auf Hindernisse. Das ist nicht neu. Meist bekommen wir davon aber nur wenig mit. Vor allem, wenn wir auf der privilegierten Seite der Gesellschaft stehen. In den letzten Wochen wurde allerdings an einigen Stellen diese Ungleichheit deutlich sichtbarer. Beispielsweise konnte man sehen, wie unentbehrlich die Arbeit der Menschen in der Pflege ist oder wie sehr wir darauf angewiesen sind, dass jemand täglich die Regale im Supermarkt auffüllt. Berufe, die ansonsten kaum beachtet und in der Regel schlecht bezahlt werden, wurden „plötzlich“ systemrelevant. Es ließ sich auch nicht mehr ignorieren, dass gerade in diesen Feldern die Arbeitsbedingungen besonders hart sind. Hinzu kommt auch noch ein Geschlechtereffekt. Gerade Berufe, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, gehören in die Kategorie „Hohe Relevanz bei mieser Bezahlung“. Dieses Interview aus der Zeit bringt das m.E. gut auf den Punkt: „Dieses Klatschen ist fast zynisch“. Ebenso zeigte sich, dass von den Maßnahmen, die gegen die Pandemie getroffen wurden, gerade die gesellschaftlichen Gruppen besonders belastet werden, die sowieso schon über wenige Ressourcen und Teilhabechancen verfügen (siehe hierzu als einen unter vielen den Beitrag „Warum die Coronakrise Ungleichheit verstärkt“ im Tagesspiegel). In der Vergangenheit haben unsere Untersuchungen immer wieder gezeigt, dass größere Ungleichheit mit geringerem Zusammenhalt einhergeht. Wie wir als Gesellschaft insgesamt mit ungleichen Teilhabechancen umgehen, sagt eben auch etwas über den Zusammenhalt aus.
- Die politische und soziale Polarisierung als Folge der Krise
Während die meisten Menschen mit der Krise und ihren Folgen besonnen umgingen, brachen sich an einigen Stellen obskure Mythen und Verschwörungstheorien Bahn. Diese handelten von geheimen Plänen und sinisteren Absichten, die angeblich hinter dem Virus und den Kontaktbeschränkungen stecken würden. Schon bald sprangen Extremisten, Reichsbürger und Populisten auf diesen Zug auf (siehe dazu den Beitrag „Kommt nach der Pandemie der Populismus?“ von Matthias Quent). Weil klar ist, dass wir alle noch lange mit dem Virus und vor allem mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise zu tun haben werden, droht diese Auseinandersetzung die bereits bestehende Polarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Wer einmal damit begonnen hat, an geheime Verschwörungsmythen zu glauben, dem fällt es schwer, wieder Vertrauen in die gesellschaftliche und politische Ordnung zu erlangen (siehe dazu z.B. das Interview mit der Sozialpsychologin Pia Lamberty in der TAZ). Je verheerender die kommende Wirtschaftskrise wird, desto mehr Auftrieb werden vermutlich solche Verschwörungsmythen erhalten und umso tiefer kann die daraus resultierende Abkehr von der Gesellschaft werden.
Neun Dimensionen von Zusammenhalt
Diese fünf Aspekte lassen es sinnvoll erscheinen, sich intensiver mit den Auswirkungen der Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu befassen. Einen hilfreichen Ausgangspunkt bietet dafür unser Modell von gesellschaftlichem Zusammenhalt mit seinen neun Dimensionen (siehe Abbildung unten). In der nächsten Zeit werden ich jede dieser Dimensionen in kurzen Beiträgen einzeln betrachten. Los geht es bereits nächste Woche, mit einem Ausblick auf die „sozialen Netze“ und wie diese sich in der Krise verändern.
Hier geht’s weiter mit Teil 2: Belastungstest für die sozialen Netze