Computerbildschirm mit mathematischen Symbolen und Grafiken

Wo kommen eigentlich die Wertemilieus her? Methodische Erläuterungen zur aktuellen Studie „Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl“

Gestern wurde die Studie „Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl“ veröffentlicht. Darin geht es hauptsächlich darum, wie unterschiedliche Wertemilieus auf die aktuelle Corona-Pandemie blicken und den Umgang damit bewerten. In diesem kurzen Blog-Beitrag wollen wir erklären, wie wir zu diesen Wertemilieus gekommen und wie diese zu interpretieren sind. Es wird hier also ein klein wenig methodisch, aber keine Angst, ohne Mathematik und Formel. Wer sich dennoch weniger für den methodischen Hintergrund, sondern vielmehr für die Ergebnisse interessiert, der findet die wichtigsten Befunde oben verlinkt. 

Über Tausend Personen wurden für unsere Studie befragt 

Jetzt heben wir also einmal die Motorhaube an und werfen einen Blick in den Maschinenraum unserer aktuellen Wertestudie. Zunächst einmal, wie sind wir überhaupt an die Daten gekommen: Grundlage für die Studie bildet eine Online-Befragung, die das Norstat Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt hat. Dazu wurden 1.012 Personen ab 18 Jahre ausgewählt und befragt. Rekrutiert wurden die Befragten sowohl online als auch offline. Die Auswahl wurde so getroffen, dass die Stichprobe im Hinblick auf Alter, Geschlecht und das Bundesland repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ist. Das bedeutet, auf der Basis dieser Daten können wir in unserer Studie Aussagen darüber treffen, wie sich bestimmte Einstellungen und Eigenschaften tatsächlich in Deutschland verteilen.  

Wir haben das Wertemodell von Shalom H. Schwartz genutzt 

Die Umfrage liefert die Datenbasis, aber am Ende kommt es natürlich nicht nur darauf an, wen und wie viele Menschen man befragt, sondern vor allem auch, welche Fragen man stellt. Um etwas über die Werthaltungen der Deutschen zu erfahren, haben wir auf ein bewährtes Instrument der Werteforschung zurückgegriffen: den sogenannten Portraits Value Questionnaire (PVS) des israelischen Psychologen Shalom H Schwartz. Schwartz hatte in den 1980er Jahren ein Modell entwickelt, das besagte, die grundlegenden Werte aller Menschen würden sich entlang der Achsen „Offenheit für Wandel“ vs. „Bewahrung des Bestehenden“ und „Selbststärkung“ vs. „Selbstüberwindung“ aufspannen. Zwischen diesen beiden Achsen entfalten sich nun zehn basale Grundwerte, mit denen sich die Werthaltungen von Menschen beschreiben lassen.

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Wertekreis nach Shalom H. Schwartz, eigene Darstellung

 

Wir haben die Grundwerte mit 21 Fragen gemessen 

Der PVS besteht eigentlich aus einer sehr großen Anzahl von Fragen, die immer nach dem gleichen Muster funktionieren: Es wird eine Person beschrieben, die bestimmte Dinge für wichtig erachtet und die Befragten sollen nun einschätzen, wie ähnlich ihnen die genannte Person ist. In unsere Umfrage haben wir aber nicht den kompletten PVS eingesetzt, sondern eine Kurzversion, die schon seit einigen Jahren im European Social Survey zum Einsatz kommt. Hier werden die zehn Grundwerte anhand von 21 Items abgefragt. Die Fragen lauten z.B. „Es ist ihm/ihr wichtig, in einem sicheren Umfeld zu leben. Er/Sie vermeidet alles, was seine/ihre Sicherheit gefährden könnte“ oder „Es ist ihm/ihr sehr wichtig, den Menschen um ihn/sie herum zu helfen. Er/Sie will für deren Wohl sorgen“. Die erste Frage bezieht sich beispielsweise auf den Wert Sicherheit, die zweite auf den Wert Benevolenz.  

Mit den Big Five lässt sich die Persönlichkeit eines Menschen beschreiben 

Aber wir haben nicht nur Werte abgefragt, sondern auch grundlegende Persönlichkeitseigenschaften. In der Psychologie hat sich das Modell der sogenannten Big Five durchgesetzt. Ähnlich wie bei dem Wertemodell von Schwartz, gibt es auch hier die Vorstellung, dass sich anhand der Ausprägung von einer begrenzten Anzahl von Merkmalen, eben der namensgebenden fünf Eigenschaften, die Persönlichkeit eines Menschen hinreichend beschreiben lässt. Die fünf Elemente der Big Five sind Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit, Extraversion (bzw. Geselligkeit), Verträglichkeit (bzw. Rücksichtnahme), Neurotizismus (oder auch emotionale Labilität). Zur Messung der Big Five haben wir ebenfalls ein erprobtes Instrument mit zehn Fragen verwendet, dass unsere Befragten bearbeiten mussten. Die Fragen lauteten beispielsweise: „Ich bin eher zurückhaltend, reserviert“ oder auch „Ich neige dazu, andere zu kritisieren“. 

Welche Fragen gehören zusammen? Ordnung schaffen mit einer Hauptkomponentenanalyse 

Neben einigen anderen Fragen, waren somit in unserer Umfrage insgesamt 31 Fragen enthalten – 10 für die Big Five und 21 für die basalen Grundwerte – mit denen wir die Werthaltungen der Befragten bestimmen wollten. Mit Hilfe einer sogenannten Hauptkomponentenanalyse wurden die Fragen danach sortiert, ob sie etwas Ähnliches oder Unähnliches messen (in diesem Video ist das Verfahren recht gut erklärt). Das Ergebnis dieses Arbeitsschritts besteht nun darin, dass wir wissen, welche Werthaltungen sich mithilfe unserer Fragen messen lassen.  

Vom individuellen Antwortverhalten zu sieben Wertemilieus 

Auf der Basis der Hauptkomponenten, d.h. den einzelnen Werten, die wir durch die Hauptkomponentenanalyse herausgearbeitet haben, lassen sich nun konkrete Gruppen bilden, die sich wiederum durch ein je eigenes Werteprofil auszeichnen. Das Verfahren, das hierzu zur Anwendung kam, war die hierarchische Clusteranalyse. Das mathematische Verfahren ist relativ kompliziert, der Gedanke dahinter aber eigentlich ganz einfach: Wir sortieren die Befragten so zu Gruppen, dass sich die Angehörigen einer Gruppe möglichst ähnlich sind und möglichst stark von den Angehörigen anderer Gruppen unterscheiden. Als Kriterium für die Unterschiedlichkeit nutzen wir die zusammengefassten Werthaltungen aus der Hauptkomponentenanalyse. Auf diese Weise entstehen Gruppen von Personen, die sich jeweils dadurch auszeichnen, dass bei ihnen die gleichen Werte ähnlich stark ausgeprägt sind: unsere sieben Wertemilieus! 

Sieben Milieus mit ähnlichen Werten 

Da sind sie also nun, die sieben Milieus mit ihren spezifischen Werthaltungen: kreative Idealist:innen, bescheidene Humanist:innen, individualistische Materialist:innen, unbeschwerte Beziehungsmenschen, sicherheitsorientierte Konservative, leistungsorientierte Macher:innen und unkonventionelle Selbstverwirklicher:innen. Im oberen Teil der folgenden Abbildung sieht man, welche Werte und welche Persönlichkeitseigenschaften diese Milieus jeweils charakterisieren.  

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Wertemilieus beschreiben und ihnen ein Gesicht geben 

In einem nächsten Schritt haben wir uns sehr genau angeschaut, welche weiteren Eigenschaften die Menschen in unseren sieben Milieus haben, z.B. ihre Altersstruktur, ihren Bildungsgrad, ihr Einkommen, ihre Religiosität oder auch ihre politische Orientierung. Wichtig: All diese Merkmale haben, wie wir gezeigt haben, bei der Bildung der Milieus oder Cluster gar keine Rolle gespielt. Zugeordnet zu einem Milieu wurden die Befragten einzig und allein aufgrund ihrer Werthaltungen und ihrer Persönlichkeitseigenschaften. Trotzdem unterscheiden sich die Milieus aufgrund ihrer demographischen Zusammensetzung, wie man beispielsweise anhand der Altersstruktur erkennen kann, die in der folgenden Abbildung dargestellt ist.  

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Hieran kann man erkennen, dass im Milieu der Leistungsorientierten beispielsweise besonders viele junge Menschen und im Milieu der Selbstverwirklicher:innen besonders viele ältere Menschen vertreten sind. Ähnlich verhält es sich auch für die Verteilung nach Geschlecht, Einkommen, Bildung usw. Man kann also erkennen, dass bestimmte Merkmalsausprägungen in den einzelnen Milieus häufiger oder seltener vorkommen als in anderen. Diese Merkmalsausprägungen haben wir dann genutzt, um die Milieus etwas plastischer zu beschreiben. In der nächsten Abbildung sieht man dies z.B. anhand des Milieus der Idealist:innen. 

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Wo sind denn Frauen über 40 Jahre? 

Schaut man sich die einzelnen Milieubeschreibungen an, dann fällt möglicherweise auf, dass bestimmte Personen da gar nicht erwähnt werden: Frauen im mittleren Alter kommen in den Beschreibungen nicht ausdrücklich vor. Liegt das daran, dass wir sie in unserer Studie nicht berücksichtigt haben oder dass sie keine Werthaltungen haben? Natürlich nicht. Die Beschreibungen basieren auf den Merkmalen, die in den Milieus überrepräsentiert sind und dienen nur dazu, sie etwas anschaulicher darzustellen. Wenn dort Personengruppen oder soziodemografische Ausprägungen nicht genannt sind, bedeutet das nur, dass sich diese Gruppen oder Merkmale gleich oder annähernd gleich über alle Wertemilieus hinweg verteilen. Schaut man oben nochmal in die Abbildung, so erkennt man, dass, bis auf das Milieu der Materialist:innen, der Anteil der 40-49 Jährigen in allen Milieus sehr ähnlich ist. Bei den Materialist:innen gibt es aber dazu noch einen gewissen Männerüberschuss. Anders herum: die Altersgruppe der 40 – 49-Jährigen ist in sechs von sieben Wertemilieus eher gleich verteilt und in dem einen Wertemilieu, in dem sie überrepräsentiert ist, sind Frauen unterrepräsentiert. Daraus folgt, es gibt kein Wertemilieu, dass sich durch einen Überhang von Frauen mittleren Alters besonders auszeichnet und deshalb taucht diese Gruppe auch nicht in den Zusammenfassungen auf