Das jüdische Pessach-Fest in Zeiten von Corona – Aus der Not eine Tugend machen

Die Corona-Krise stellt auch Religionsgemeinschaften vor besondere Herausforderungen. Dabei ist es interessant zu sehen, welche spirituellen oder pragmatischen Ressourcen bereitstehen, sich gegen die Auswirkungen der Krise auf das religiöse Miteinander zur Wehr zu setzen. Im Judentum fand in der letzten Woche mit dem Pessach-Fest einer der zentralen Feiertage statt. In dessen Zentrum steht die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten: der Weg aus der Sklaverei in die Freiheit. Dabei geht es um mehr als nur kognitive Erinnerung an ein legendenhaftes historisches Ereignis. Josh Weiner, Rabbinatsstudent in Berlin, schreibt: „Die Geschichte sollte so nacherzählt werden, dass alle um den Tisch Versammelten gleichermaßen ein Teil dieser Geschichte werden. Wir waren Sklaven und wir sind frei.“ Kreativität und Engagement waren gefragt, um aus der Not eine Tugend zu machen und das Pessach-Fest auch in Krisenzeiten feiern zu können.

Pessach ist ein Familienfest voll (kulinarischer) Symbolik

Am Sederabend versammelt sich üblicherweise die ganze Familie, dazu kommen Freunde und Verwandte. Dass 15 oder gar 30 Feiernde an einem festlich gedeckten Tisch sitzen ist keine Seltenheit. Auch Reiseanstrengungen werden normalerweise nicht gescheut: Pessach ist in Corona-freien Jahren eine viel genutzte Gelegenheit der (weit entfernten) Verwandtschaft einen Besuch abzustatten. Alle am Tisch sind mit einer „Haggada“ ausgestattet, einem kleinen Büchlein, in dem die vielen Segenssprüche und Lieder des Abends sowie die Geschichte vom Auszug aus Ägypten zu finden sind. So kann sich jeder durch Vorbeten oder Vorlesen beteiligen. Die Pessach-Haggada bietet dabei so viel Stoff, dass wenn man alle Anregungen befolgte, alle bis weit nach Mitternacht am Tisch sitzen würden (was mancherorts tatsächlich auch passiert).

Ein Fest der Freiheit

Eröffnet wird der Abend mit einem Segen über den Wein, woraufhin das erste von traditionell vier Gläsern Wein geleert wird. Jedes Glas Wein symbolisiert eine Form der Freiheit, die von den Israeliten durch den Auszug aus der Sklaverei erlangt wurde.

Eine kulinarische Nacherzählung

Die Erzählung der Befreiungsgeschichte wird von einer Art kulinarischer Nacherzählung begleitet, um alle Sinne einzubeziehen: Der Verzehr von ungesäuertem Brot erinnert an die Hast der Flucht; man isst Bitterkräuter, um der Bitterkeit der Sklaverei gewahr zu werden; eine Mischung aus Früchten und Nüssen (Charosset) symbolisiert den Ton, aus dem die Israeliten Ziegel für die Ägypter herstellen mussten; Wurzelgemüse (Radieschen, Kartoffel, Sellerie) steht für die mühsame Bearbeitung des Bodens, zu der man gezwungen war. Ein Hühner- oder Lammknochen erinnert an das Lamm, das im Tempel geopfert wurde, solange dieser stand (bis 70 n. Chr.), ein gekochtes Ei an ein weiteres Tempelopfer. Diese Speisen sind Teil des „Seder“, des nach einer festen Struktur ablaufenden Pessach-Mahls.

Wie religiöse Traditionen Generationen verbinden können

Im Mittelpunkt des festlichen Abends steht die Vermittlung der Geschichte an die nächste Generation. Biblisch erläutert wird dies anhand Exodus 13,8: „Du sollst deinem Sohn sagen an demselben Tage: Das halte ich um dessentwillen, was mir der Herr getan hat, als ich aus Ägypten zog.“ Im Zeremoniell wird deshalb zum einen die Geschichte erzählt, zum anderen gibt es ein ritualisiertes Frage-Antwort-Spiel. In der „Haggada“, dem Leitfaden für den Abend, treten vier Kinder auf, die von den Anwesenden mit verteilten Rollen vorgetragen werden. Diese vier (fiktiven) Kinder reagieren ihrem Charakter entsprechend ganz unterschiedlich auf die Erzählung vom Auszug aus Ägypten und auf die vielen Erinnerungsrituale. Die Nachkommenden dürfen also fragen, was das alles bedeutet, dürfen zweifeln und sich nach Details erkundigen; die älteren müssen Antworten finden und sich den Fragen der jungen Generation stellen.

Kulinarisches Miterleben und Nacherzählung der Geschichte – man merkt, wie sehr Pessach ein Familienfest ist, bei dem die Generationen zusammen am Tisch sitzen. Genau dies war nun aber in Zeiten des Corona-Virus unmöglich. Lösungen wurden nichtsdestotrotz gefunden. Von spirituellen Gedanken dazu, wie Gemeinschaft möglich sein kann, auch wenn man nicht zusammensitzt, über das Auffinden historischer Vorbilder für einen Pessach-Abend allein, bis hin zu ganz pragmatischen Maßnahmen und Aktionen auf Gemeindeebene war alles dabei.

 

Pessach in Corona-Zeiten – spirituelle und pragmatische Ideen aus der Praxis

Der britische Oberrabiner Jonathan Sacks brachte einen spirituellen Gedanken gegen die drohende Einsamkeit ins Spiel. Gemäß dem jüdischen Prinzip, dass Gott Lösungen immer schon bereithält, bevor es zum Problem kommt, müsse die Lösung nur gefunden (und nicht etwa noch erfunden) werden. Dazu charakterisierte Sacks die Synagoge und den Shabbat, den wöchentlichen Ruhetag, als zwei Heiligtümer, die Gott den Israeliten geschenkt hat: die Synagoge, als heiliger Ort für Gemeinschaft im Raum und den Shabbat als heiligen Ort für Gemeinschaft in der Zeit. Macht man sich bewusst, dass Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt zur gleichen Zeit Shabbat halten und nun auch zur gleichen Zeit die Pessach-Feier begingen, so kann man darin Gemeinschaft erfahren und sich der Gefühle von Einsamkeit erwehren.

Pessach allein feiern – es gibt historische Vorbilder

Mehr pragmatisch-praktisch orientiert sind eine Gruppe von RabinnerInnen und Josh Weiner das Problem angegangen und hatten Anregungen und Vorschläge für einen Solo-Sederabend erarbeitet. Denn historische Vorbilder existieren! So schreibt schon der große jüdische Philosoph Moses Maimonides im 13. Jahrhundert: „Wer allein ist, sollte sich selbst fragen: Warum ist diese Nacht anders als die anderen?“ Wenn also keine Kinder am Tisch sitzen, um die Fragen zu stellen, so solle sich jeder selbst befragen. Josh Weiner bietet dafür eine alternative Interpretation der vier fragestellenden Kinder an: Gemeint sind hier vier Persönlichkeitsaspekte, die wir alle in uns tragen. Mit dieser Interpretation wirkt es weniger seltsam, sich selbst zu befragen. Vielmehr verhandeln wir mit dem naiven, dem rebellischen und dem weisen oder ratlosen Teil in uns. Bereits im 16. Jahrhundert hat sich Rabbi Yochanan ben Yosef Treves in Italien Gedanken gemacht, wie ein Seder-Abend allein verbracht werden kann. Die Gefahr damals war kein Vorläufer des Corona-Virus, sondern die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 und politischer Druck, der ganze Familien auseinandergetrieben hat. Die Vorschrift, den eigenen Kindern die Geschichte zu erzählen wurde hier zum Ziel umgedeutet, für sich selbst neue Inspiration zu sammeln und zu lernen, kurz: sich selbst die Geschichte neu zu erzählen.

Krisenmanagement konkret – Nachbarschaftshilfe und digitale Gottesdienste

In Berlin zogen Gemeindemitglieder im Vorfeld von Haus zu Haus, verteilten Mazzen (das ungesäuerte Brot) und Bitterkräuter, damit die Menschen nicht selbst einkaufen mussten. In Online-Tutorials wurde das nötige Wissen für die Pessach-Zeremonie verbreitet, das ja jetzt jeder für sich haben musste. Üblicherweise gibt es einen kundigen Leiter oder eine kundige Leiterin der Zeremonie, an dem oder der sich alle orientieren können. Shabbat-Gottesdienste wurden und werden in mehreren größeren Gemeinden digital gehalten. Denn sich aus allen Ecken des Landes, ja gar aus allen Ecken der Welt zuzuschalten, stellt heute kein Problem mehr dar. Unter dem Hashtag „Tablets4Safta“ (Tablets für Oma) werden zudem Spenden gesammelt, um alte Menschen mit digitalen Endgeräten auszustatten, die Videotelefonie und digitalen Austausch ermöglichen. So soll der Zusammenhalt von Familien und Gemeinden gestärkt werden.

Aus der Not eine Tugend machen

Aus der Not eine Tugend zu machen war also die Devise und im Allein-Sein kann auch die Chance einer ganz neuen Freiheit liegen. Ohne große Gesellschaft konnte jeder sein eigenes Tempo für das Zeremoniell wählen, sich mit denjenigen Aspekten der Geschichte beschäftigen, die einen selbst am meisten interessieren, unbelauscht singen so laut man möchte und in der bequemsten Jogginghose am Tisch sitzen. Und sicher ist: allein war damit an diesem Abend niemand.