Regieren in Zeiten der Pandemie
GroKo-Bilanz spürbar verbessert, in 2021 bleibt aber auch noch einiges zu tun
Corona und die „Coronapolitik“ der Bundesregierung haben das Jahr 2020 stark geprägt. Nicht nur scheint die Krisensituation das faktische Handeln der politischen Akteure in diesem Jahr anzuleiten, auch die gefühlte Stimmung und das Meinungsklima in Deutschland werden offensichtlich von den aktuellen Ereignissen beeinflusst. Für viele Menschen hat es die Bundesregierung geschafft, ihre Handlungsfähigkeit in der Krise unter Beweis zu stellen – augenscheinlich schlägt die „Stunde der Exekutive“. Ganz so euphorisch, wie im Sommer dieses Jahres ist das Meinungsklima im zweiten Lockdown light allerdings nicht mehr. Lag im Sommer die Zustimmung zum Umgang der Bundesregierung mit der Coronapandemie noch bei 74 Prozent, sind es jetzt „nur noch“ 60 Prozent. Dieser Trend zeigt sich einer repräsentativen YouGov-Umfrage zufolge auch im Vertrauen in einen „starken und handlungsfähigen Staat“. Hielten im Frühjahr noch knapp 70 Prozent der Befragten den Staat für stark und handlungsfähig, sind es im November „nur noch“ 57 Prozent. Aber dennoch: Die Akzeptanz der Coronamaßnahmen und das Regierungsvertrauen bleiben auf hohem Niveau. Das effiziente und responsive Handeln politischer Akteure in Krisensituation ist aber nur eine Seite der Medaille. Neben Corona gibt es noch eine Vielzahl anderer Themen und Herausforderungen. Die Große Koalition (GroKo) hat sich zu Beginn der Legislaturperiode auf fast 300 Projekte, die sie gemeinsam angehen wollte, geeinigt. Was ist also im Laufe des letzten Jahres aus diesen Projekten geworden? Hat es die Bundesregierung auch im Krisenmodus geschafft, weiter an zentralen Koalitionsversprechen zu arbeiten? Oder hat die Krise zu einem politischen Stillstand geführt? Wurden Versprechen aus dem Koalitionsvertrag sogar gebrochen?
Vor einem Jahr haben wir die Halbzeitbilanz der GroKo „Besser als ihr Ruf“ veröffentlicht. In einem ersten Schritt haben wir dazu alle konkreten Versprechen aus dem Koalitionsvertrag identifiziert. Die Koalition hat sich 2018 auf 296 konkrete Vorhaben aus unterschiedlichen Politikbereichen geeinigt. Beispiele dafür sind etwa die Versprechen keine Schulden zu machen oder die Einführung einer Grundrente. In einem zweiten Schritt haben wir dann überprüft, ob die Versprechen vollständig oder teilweise umgesetzt wurden, sich zumindest im Prozess der Erfüllung befinden, oder (bisher) nicht erfüllt sind. Die unterschiedlichen Erfüllungsstadien wurden folgendermaßen kodiert: Ein Versprechen ist dann vollständig erfüllt, wenn die versprochenen Maßnahmen oder das anvisierte Ziel auch im selben Maß verwirklicht wurde, wie es im Koalitionsvertrag steht. Ist dieser volle Umsetzungsumfang nicht komplett erreicht, gilt ein Versprechen als teilweise erfüllt. Wenn bereits substanzielle Umsetzungsschritte in die Wege geleitet worden, befindet sich ein Versprechen im Prozess der Umsetzung.
Im September 2019 konnten wir so zeigen, dass die Koalition bereits zwei Drittel ihrer Koalitionsversprechen (teilweise oder vollständig) umgesetzt oder zumindest angepackt hatte. Diese rekordverdächtige Halbzeitbilanz wurde aber aus Sicht der Wähler:innen nicht bestätigt. Nur zehn Prozent aller Wähler:innen glaubten, dass Parteien und Regierungen ihre Versprechen auch erfüllen. Es klaffte also eine große Lücke zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Einhaltung von Koalitionsversprechen. Die GroKo arbeitete offenbar „besser als ihr Ruf“. Eine herausfordernde, aber notwendige Aufgabe für eine demokratische Gesellschaft sei es, den Gründen für diese Kluft zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Performanz nachzugehen und einen Verständigungsprozess zwischen den politischen Akteuren und Bürger:innen zu initiieren – so schlussfolgerten wir damals.
Aktuell hat die GroKo knapp zwei Drittel ihrer Versprechen erfüllt, ein Viertel ist aber noch gar nicht angepackt.
Wie sieht die Bilanz nun ein gutes Jahr später aus? Wie hat sich diese Kluft zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Performanz vor dem Hintergrund der Pandemie und der damit verbundenen „Rückkehr des Vertrauens“ in Staat und Regierung verändert? Die GroKo hat mittlerweile knapp drei Viertel (73 Prozent) ihrer 296 Versprechen im Koalitionsvertrag (teilweise oder vollständig) umgesetzt oder zumindest in den Prozess der Erfüllung gebracht. Im Herbst letzten Jahres waren es erst zwei Drittel (66 Prozent). Entsprechend konnte die GroKo ihre Zwischenbilanz um sieben Prozentpunkte (insgesamt 22 Versprechen) verbessern. In Summe war die Bundesregierung im letzten Jahr also trotz Coronakrise nicht untätig. Derzeit nicht erfüllt und auch gar nicht angepackt sind 26 Prozent der Versprechen (insgesamt 75 Versprechen). Zum Vergleich: Ende der letzten Legislatur (2013-2017) sind 19 Prozent der Versprechen liegengeblieben. Die GroKo hat also im neuen Jahr noch einiges an Arbeit vor sich, wenn sie die Schlussbilanz ihrer letzten Regierungsperiode erreichen oder gar toppen möchte.
Ein genauerer Blick auf die Koalitionsversprechen und unterschiedlichen Erfüllungsstadien zeigt, dass von allen 296 Versprechen bereits knapp zwei Drittel (65 Prozent) vollständig erfüllt sind (s. Abbildung unten). Im Vorjahresvergleich lag dieser Wert bei lediglich knapp der Hälfte der Versprechen. Somit hat sich im letzten Jahr der Anteil der vollständig erfüllten Versprechen überdurchschnittlich stark erhöht. Während sich die Gesamtbilanz um 7 Prozentpunkte verbessert hat, ist der Anteil vollständig erfüllter Versprechen um 18 Prozentpunkte gestiegen. Bereits jetzt neun Monate vor der Bundestagswahl 2021 hat die GroKo damit prozentual genauso viele Versprechen vollständig erfüllt, wie am Ende ihrer letzten Legislaturperiode von 2013 bis 2017 (Studie: „Versprochen wird nicht gebrochen“). Gleichzeitig hat sich der Anteil, der sich im Prozess befindenden Versprechen von 14 Prozent im Jahr 2019 auf aktuell 4 Prozent verringert. Das bedeutet: Die GroKo hat im Krisenjahr 2020 wenig neue Projekt angegangen, sondern hat vor allem an bereits bestehenden, sich im Prozess befindenden Versprechen weitergearbeitet. Beispiele dafür sind zentrale Projekte, wie die Grundrente oder die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, die bereits vor der Coronakrise in Angriff genommen wurden, und mittlerweile realisiert werden konnten. Die GroKo musste alles in allem zwar wenige, aber dennoch bedeutende Rückschläge hinnehmen. So kann das Ziel einer Neuverschuldung aufgrund der Corona-Rettungspakte dieses Jahr nicht eingehalten werden. Und auch das Kernanliegen der SPD, die sachgrundlose Befristung für Arbeitnehmer:innen einzuschränken, ist bisher nicht umgesetzt.
In Summe spricht derzeit vieles dafür, dass die GroKo ihre Gesamtbilanz der letzten Amtsperiode von knapp 80 Prozent im nächsten Jahr mindestens wieder erreicht, wenn nicht gar übertreffen wird. Dennoch ist schwer abschätzbar, was und wie viel im Superwahljahr 2021 bei sechs Landtagswahlen und der Bundestagswahl noch politisch passieren wird. Die GroKo muss sich also ranhalten und noch etwas auf das Gaspedal drücken, wenn sie ihre letzte Bilanz noch übertreffen will.
Trotz Corona hat die GroKo weiter an zentralen Projekten aus dem Koalitionsvertrag gearbeitet.
Eines ist aber bereits jetzt klar: innerhalb des letzten Jahres gab es keinen politischen Stillstand oder generellen Rückschritt bei der Umsetzung vorgenommener Projekte. Trotz des zusätzlichen Handlungsdruck durch Corona hat die Bundesregierung weiter an der Umsetzung zentraler Versprechen gearbeitet und ihre Bilanz verbessern können. Was aber sagen die Wähler:innen dazu?
Gefragt danach, ob und inwieweit die Versprechen eines Koalitionsvertrages im Allgemeinen umgesetzt werden, antworten bei einer im November 2020 durchgeführten repräsentativen YouGov-Umfrage nur knapp ein Fünftel (18 Prozent) aller Befragten, dass entweder „alle, fast alle“ oder wenigstens „ein großer Teil“ aller Versprechen auch umgesetzt wird (s. Abbildung oben). Ein gutes Drittel geht dagegen davon aus, dass nur „ein kleiner Teil“ bzw. „kaum welche“ eingehalten werden. Auch Ende 2020 klafft also noch eine Lücke zwischen wahrgenommener und tatsächlicher Performanz der Bundesregierung. Allerdings ist diese Lücke das erste Mal seit unserer Erhebung im Jahr 2017 spürbar kleiner geworden. Während im September letzten Jahres lediglich 10 Prozent davon ausgingen, dass die Koalitionsvorhaben größtenteils umgesetzt werden, ist jetzt der Anteil deutlich auf 18 Prozent angestiegen und hat sich damit fast verdoppelt. Gleichzeitig gaben im Herbst 2019 noch mehr als vier von zehn Befragten (44 Prozent) an, dass kaum Koalitionsvorhaben realisiert werden. Ein gutes Jahr später ist es nur noch jeder Dritte (34 Prozent). Die Lücke zwischen den Erfüllungsoptimist:innen und den Erfüllungsskeptiker:innen hat sich somit von dem Spitzenwert von 34 Prozentpunkte 2019 auf aktuell nur 16 Prozentpunkte Differenz reduziert. Wir beobachten also eine Trendumkehr: während die Kluft seit 2017 von Jahr zu Jahr größer wurde, hat sich nun erstmals die Lücke zwischen Optimist:innen und Skeptiker:innen deutlich verkleinert.
Die Umsetzungsbilanz aus Sicht der Bürger:innen fällt 2020 spürbar besser aus als 2019 – Luft nach oben bleibt dennoch.
Corona und sonst nichts? Nein, die GroKo hat auch im letzten Jahr an anderen Projekten (weiter) gearbeitet. Die Bilanz bei der Umsetzung der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Versprechen hat sich innerhalb eines Jahres verbessert: waren im Herbst 2019 erst zwei Drittel der Koalitionsvorhaben umgesetzt oder angepackt, sind es ein Jahr später bereits drei Viertel. Einige Großprojekte stehen aber noch aus. Sollte die GroKo diese im kommenden Jahr noch anpacken, kann sie ihre Gesamtbilanz im Vergleich zur vorherigen Legislaturperiode (2013-2017) vielleicht noch übertreffen. Ein interessanter Befund ist auch das deutlich verbesserte Stimmungsbild der Wähler:innen. Auch wenn noch immer ein Drittel der Wähler:innen den Parteien ein geringes Interesse an der Umsetzung ihrer Versprechen unterstellen, fällt die gefühlte Umsetzungsbilanz aus Sicht der Bürger:innen 2020 deutlich besser aus als 2019. Woran liegt das? Eine Vermutung ist, dass die „Rückkehr des Vertrauens“ in Staat und Regierung, die Demoskop:innen seit Beginn der Krise messen, auch auf die gefühlte Umsetzungsbilanz der GroKo abfärbt. Die Krise hat für viele Menschen Politik wieder erfahrbar und spürbar gemacht. Gleichzeitig sehnen Menschen sich in schwierigen Situationen nach politischer Führung sowie schnellem Handeln der Verantwortungsträger:innen in der Politik. Vielleicht aber hat es die GroKo auch geschafft mit einigen ihrer mittlerweile realisierten Großprojekten, wie der Grundrente, besser in ihrer Kommunikationen zu den Wähler:innen durchzudringen. Noch ist es aber zu früh für ein endgültiges Fazit – sowohl aus Sicht der tatsächlichen wie auch der gefühlten Umsetzungsbilanz: Denn Krisensituationen und das daraus resultierende Meinungsklima sind sehr dynamisch und volatil. Sollte die überwiegende (noch) gute Stimmung wieder kippen, kann sich auch das gute Abschneiden der Regierung mit Blick auf die Umsetzung von Koalitionsversprechen in Umfragen schnell wieder wandeln.